Inklusion im Musikschulalltag

«Fionas Lieblingslied ist ‹Sternschnuppe› und sie mag ihre Klavierlehrerin Sophie mega!» – So gelingt der Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit Handicap an Musikschulen.

Fiona übt regelmässig und spielt gerne vor. Foto: zVg

Fiona-Olivia Plüss ist 17 Jahre alt. Seit mehr als fünf Jahren besucht sie an der Musikschule Konservatorium Zürich (MKZ) den Klavierunterricht, davon drei Jahre bei der Musikpädagogin Sophie Aeberli. Dass der Zugang zum Musikunterricht für sie trotz Downsyndrom so unkompliziert war, hat sicher auch mit dem pragmatischen Ansatz zu tun, den man an der MKZ lebt. Ein spezifisches Förder- oder Integrationsprogramm für Kinder mit Behinderung gibt es nicht. Der Unterricht ist «inklusiv» und – wie Sophie Aeberli es formuliert: «Ich ging angstfrei und mit ‹Gwunder› dran.»

Im Gespräch mit Fiona, ihren Eltern und Sophie Aeberli wird deutlich, wie gewinnbringend ein solcher Unterricht für alle sein kann. Dennoch bewegt sich die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, welche an den Musikschulen unterrichtet werden, noch immer im tiefen einstelligen Prozentbereich.
 

«Das will ich auch!»

Bei Fiona verlief der Einstieg ins Klavierspiel über die Melodica. Fiona lernte Notenlesen und mit einem Tasteninstrument umzugehen. Als die ältere Schwester Klavierunterricht nehmen wollte, meinte Fiona: «Das will ich auch!» Sowieso war Fiona immer überall dabei. Die Eltern engagierten sich stark für den inklusiven Weg. So besuchte Fiona denselben Regelkindergarten und danach die Primarschule wie ihre Schwester. Heute besucht sie mit den Kindern aus dem Quartier die zweite Sekundarschulklasse im Zürcher Schulhaus Letzi. «Das war der beste Entscheid», meint Fionas Vater.

Der Zugang zur städtischen Musikschule erfolgte problemlos, obwohl weder auf der Webseite noch in anderen Publikationen auf das Angebot zum inklusiven Musik-, Tanz- und Theaterunterricht hingewiesen wird. Eine Umfrage unter den Lehrpersonen an der MKZ hat kürzlich ergeben, dass deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit Behinderung unterrichtet werden, als bisher bekannt war.

Mit Begeisterung ist Fiona im Unterricht bei Sophie Aeberli dabei. Sie strahlt, wenn sie von ihrer Klavierlehrerin spricht. Nebst dem Klavierunterricht besucht sie mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern der MKZ den Theaterunterricht beim Theaterpädagogen Arniko Dross. Sie übt regelmässig, eigenständig und ist stolz darauf, etwas «für sich» zu haben. Grossen Spass hat sie auch am Vorspiel. Lampenfieber kennt Fiona eigentlich nicht, auf der Bühne ist sie in ihrem Element. Die Mutter bemerkt: «Die ältere Schwester wäre beim Vorspiel am liebsten davongelaufen, aber Fiona genoss den Auftritt.»

Ob die musische Ausbildung Einfluss auf Fionas Entwicklung habe, fragen wir die Mutter. Sie meint: «Ich denke schon. Weil sie aktuell auch in der Schule gut gefördert wird, ist es aber schwierig abzuschätzen, was welche Wirkung hat. Auch André Frank Zimpel, Professor mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und Behindertenpädagogik der Universität Hamburg, ist der Ansicht, dass Klavierspiel etwas vom Besten ist, um die Koordination zu fördern. Das bewirkt im Gehirn etwas, wie auch das Singen und Tanzen.»
 

«Wir begegnen uns auf Augenhöhe»

Sophie Aeberli sieht in Fionas grossen Freude an der Musik den Schlüssel zum Erfolg: «Ich lasse sie oft spielen. Damit sie nicht das Gefühl hat, sie müsse jetzt dies oder jenes lernen. Der Punkt ist, wir verstehen uns menschlich einfach gut und begegnen uns auf Augenhöhe.» Für sie gebe es keine Trennung zwischen besonderer Förderung oder Didaktik und normalem Unterricht. Die Praxis liege wahrscheinlich in der Mitte.

Ob sie den Klavierunterricht speziell an Fiona angepasst habe? «Noten lesen wir weniger, es braucht zu viel Zeit. Von der Motorik her ist Fiona eher angespannt, aber kraftvoll in den Fingern. Geläufigkeit oder Geschwindigkeit sind daher nicht ihre Sache, deshalb fokussiere ich lieber auf andere Themen wie z. B. den Klang», verrät die Musikpädagogin. Zudem ist es wichtig, dass Fiona nicht in einen Stressmodus gerät. Sie habe begonnen, mit Fiona viel auswendig zu spielen, das funktioniere gut. Manchmal zeichnet sie das Gespielte in einer Art grafischen Notation auf. Auch das Zusammenspiel mit einer Freundin (ebenfalls mit Downsyndrom) fördert Aeberli. «Wir setzen uns bewusst kleinere Ziele, aber die erreichen wir.»
 

Ausbildung und Arbeitsumfeld

Inklusion war während ihrer Ausbildung zur Klavierpädagogin in Luzern kein Thema oder wurde höchstens am Rande erwähnt. Aeberli ging Fionas Unterricht daher auch eher pragmatisch-intuitiv an. Sie habe nicht viel recherchiert, sondern Verschiedenes ausprobiert. Denn eigentlich seien im Einzelunterricht jede Schülerin und jeder Schüler etwas Spezielles, und sie gehe immer unterschiedlich auf Lernarten und -tempi ein. Nun hätte sie aber das Bedürfnis nach spezifischer Weiterbildung oder einem Austausch unter Lehrpersonen. Ein Thema, das sie beschäftigt, ist die Leistungsbeurteilung an Stufentests. Aeberli steht rein leistungsorientierten Bewertungen kritisch gegenüber, weil dabei die Unterschiede der Schülerinnen und Schüler als Schwäche und nicht als Gewinn angesehen werden. Wenn Konzerte und Stufentests dagegen als spielerische, motivierende Momente des gemeinsamen Musizierens und des Austauschs gestaltet werden, können wie an der MKZ auch alle teilnehmen.

Die MKZ ist mit rund 23 000 Fachbelegungen die grösste Musikschule der Schweiz und eine der grössten Europas. Ein Konzept zur Inklusion von Schülern und Schülerinnen mit Behinderung gibt es für die rund 600 diplomierten Musik-, Tanz- und Theaterlehrpersonen (noch) nicht. Punktuell finden Weiterbildungs- oder Austauschmöglichkeiten statt. Die Offenheit seitens Direktion und Lehrerschaft ist aber gross.

Den Lehrpersonen, die neu an eine solche Aufgabe herangehen, rät Sophie Aeberli, locker zu bleiben, den Austausch mit erfahrenen Kollegen und Kolleginnen zu suchen sowie einen konstruktiven Kontakt zu den Eltern aufzubauen.

Eine Vorreiterrolle hat die Musikschule Konservatorium Bern inne. Auf ihrer Webseite weist sie explizit auf ihren Musikunterricht für Menschen mit Behinderung hin. Die Lektionen werden individuell angepasst. Es gibt auch Bandunterricht für Menschen mit Handicap. Ein separates Konzept geht auf die verschiedenen Methoden ein. Unter anderem wird der Unterricht bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen von der Pädagogischen Hochschule Bern gecoacht und begleitet. Die Musikschule trägt das Label «Kultur inklusiv», eine Auszeichnung für kulturelle Institutionen, die sich speziell für das Thema Inklusion einsetzen.
 

Weiterführende Informationen

Spektrum Inklusion – wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, VdM, Verband deutscher Musikschulen (ein sehr umfassender Ratgeber mit konkreten Beispielen)

Musizieren mit Behinderung an der Musikschule Konservatorium Bern (Konzept für inklusiven Zugang und Unterricht)

Weil Behinderung kein Hindernis ist, Verband Musikschulen Thurgau in Zusammenarbeit mit Pro Infirmis und Insieme Thurgau
 

Autorin und Autor

Eva Meroni, Geschäftsführerin der Stiftung Profil Arbeit & Handicap, und
Patrick Vogel, Mitglied der Geschäftsleitung der Musikschule Konservatorium Zürich MKZ, absolvieren den Executive MBA der Hochschule Luzern – Wirtschaft.

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