Von politischer Fokussierung zum Zukunftslabor

Das Forum Musikalische Bildung, Aushängeschild des Verbandes Musikschulen Schweiz, feiert Jubiläum. Anlass für eine Rückschau über 15 Jahre. Die 10. Ausgabe findet am 20. und 21. Januar 2023 im Trafo in Baden statt.

Das erste FMB fand 2007 im Kultur- und Kongresszentrum Aarau statt. Foto: Niklaus Rüegg

Die Tagung 2023 steht unter dem Dachthema Transformation – Digitalisierung und Inklusion in der musikalischen Bildung. Erstmals hat der neue Präsident des Verbandes Musikschulen Schweiz (VMS), Philippe Krüttli, die Leitung inne. Neben zwei Keynote-Referaten am ersten Tag folgen am zweiten einige Input-Referate zu konkreten Bildungsthemen. Zum vierten Mal findet überdies der Best-Practice-Wettbewerb statt – eine Errungenschaft, die in den letzten Jahren bei vielen Musikschulen grossen Anklang fand. Der VMS hat dadurch an der «Basis» deutlich an Profil gewonnen.

Die Geschichte des Forums Musikalische Bildung (FMB) ist eng verknüpft mit jener des VMS. Die ersten 30 Jahre seiner Existenz funktionierte der Verband (gegründet 1975) als nationales Gremium für seine Mitgliedschulen mit einer jährlichen Mitgliederversammlung. Anfang der erjahre wird der Ruf nach neuen Strukturen laut. An der Klausur 2005 legt der Vorstand erstmals eine Strategie für den Verband fest. Die Einführung einer Dachverbandsstruktur wird beschlossen, und gleichzeitig beginnen die Vorarbeiten zur Initiative Jugend+Musik. In diesem Kontext ist auch die Gründung des FMB zu sehen. Der Verband brauchte eine Plattform, um die musikalischen Bildungsthemen im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern. Die Vision des damaligen VMS-Präsidenten Hector Herzig war es, ein Forum zu gründen, an dem mindestens einmal jährlich nicht nur über die musikalische Bildung, sondern in erster Linie über Bildungsthemen im Allgemeinen breit diskutiert werden sollte. Dem Initianten schwebte ein neues Bildungskonzept vor, in dem die Kreativfächer einen prominenten Stellenwert bekommen sollten. Unter dem Motto «Bildung neu denken» wollte Herzig «die Gesellschaft dafür gewinnen, die musikalische Bildung im Gesamtkontext der Bildung neu zu positionieren» und im Hinblick auf die Volksinitiative argumentativ zu untermauern. In enger Zusammenarbeit mit der FMB-Verantwortlichen im VMS-Vorstand, Liliane Girsberger, wurden in den Folgejahren die Inhalte des Forums konzipiert.
 

Burgdorf und KuK Aarau

2005 fand ein «Forum Burgdorf – Internationales Forum für Musikerziehung» statt. Es blieb bei dem einen Mal. Hector Herzig, der zu den Initianten gehörte, übernahm das Konzept und setzte es im November 2007 neu als erstes «Forum Musikalische Bildung FMB» am Kultur- und Kongresszentrum Aarau (KuK) um. Nationalrätin und Präsidentin des Initiativkomitees Christine Egerszegi hielt das Eröffnungsreferat zum Thema «Musikalische Bildung im politischen Spannungsfeld»; Abt Martin Werlen vom Kloster Einsiedeln spannte in seinem bemerkenswerten Referat «Was bleiben muss, damit Wandel möglich wird» einen Bogen zwischen den Benediktinerregeln des 6. Jahrhunderts und der digitalen Gegenwart. Vier spannende Input-Referate liefen simultan ab. Unter den Vortragenden war kein Geringerer als Hans Günther Bastian, der mit seiner bekannten Langzeitstudie die Wirkung von vermehrtem Musikunterricht auf Grundschulkinder untersuchte und damit grundlegende Argumente für die Anliegen der musikalischen Bildung lieferte.

Der Aufbau der Tagung blieb all die Jahre grundsätzlich gleich – Keynote-Referate am ersten und am zweiten Vormittag, gefolgt von Podiumsdiskussionen und Input-Referaten. Zum Auftakt und zum Tagungsende waren jeweils musikalische Beiträge, meist von preisgekrönten jugendlichen Musikerinnen und Musikern zu hören.
Die Moderationen besorgte übrigens (ausser 2016) in seiner lockeren und dennoch sachgerechten Art bis ins Jahr 2020 Jodok Kobelt.

Im Jahr 2008, wiederum im KuK, ging es um «Musikunterricht in Schule und Musikschule», und damit um eines der Kernthemen der Initiative. Ihm wurden stolze sechs Input-Referate gewidmet. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, erläuterte in fesselnder Weise seine Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Schulleistungen. Beat Hofstetter, Studienleiter Schulmusik an der FHNW, warnte vor einer Abnahme des musikalischen Know-hows der künftigen Lehrpersonen, da das Fach Musik an den pädagogischen Hochschulen abgewählt werden könne – eine Vorhersage, die leider Wirklichkeit wurde. Das Diktum von Gerhard Wolters «Nicht darüber reden, was Kinder lernen sollen, sondern darüber, was Kinder dazu bringt, lernen zu wollen» blieb ebenso hängen wie Hector Herzigs radikaler Vorschlag: «die Strukturen aufzubrechen und die Schule auf der grünen Wiese ganz neu zu bauen».
 

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Jodok Kobelt moderierte bis 2020 (ausser 2016) alle Tagungen.
Diskussionsrunde am FMB 2011: v.l. Oskar Freysinger, Christine Egerszegi, Jodok Kobelt, Jean-Frédéric Jauslin

Die Trafo-Epoche I: auf der Suche nach Widerspruch

Ein FMB 2009 fand nicht statt. Der VMS-Vorstand entschied, das Forum vom mit Veranstaltungen reich befrachteten November ins «Januarloch» und gleichzeitig an den neuen Standort Trafo in Baden zu verlegen. Somit verstrich nicht viel mehr als ein Jahr seit der letzten Ausgabe. Zu den absoluten Highlights der frühen Trafo-Jahre gehörten die Auftritte des «Tageswanderers» Daniel Fueter. Er nahm nicht nur als Referent und Diskutierender an mehreren Foren teil, sondern setzte mit seinen sprachlich und inhaltlich vollendeten Tageszusammenfassungen unnachahmliche Höhepunkte.

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«Tageswanderer» Daniel Fueter am FMB 2011

Am FMB 2010 ging es noch einmal ein Stück politischer zu. Herzig wollte mehr kontroverse Diskussionen und Standpunkte, zu einig war man sich nach seinem Dafürhalten in den Vorjahren bei den zentralen Themen gewesen. Hochinteressant war unter diesem Gesichtspunkt das Zusammentreffen des Kinderpsychiaters Michael Winterhoff und des Kinderarztes Remo Largo, die von unterschiedlichen pädagogischen Grundsätzen ausgingen. Kontrovers verlief auch die politische Diskussion mit Vertretern des Bundesamtes für Kultur (BAK). Die Meinungsbildung im Hinblick auf die nahende Abstimmung nahm Fahrt auf. Der Philosoph Georg Kohler hob die Diskussion über die Bedeutung der Musik noch einmal auf eine entrückte Flughöhe. Darauf wurden die Teilnehmenden durch den Erziehungswissenschaftler Gerhard de Haan wieder auf den Boden der bildungspolitischen Realitäten geholt.

Noch politischer ging es 2011 zu. In der Person des Berner Regierungsrats Bernhard Pulver fand sich ein Freund der musikalischen Bildung. Nationalrat Ruedi Noser stellte sich gegen die Initiative, BAK-Chef Jean-Frédéric Jauslin gab sich konziliant, Christine Egerszegi legte sich ins Zeug und SVP-Populist Oskar Freysinger gefiel sich als Selbstdarsteller. Mister Expo 02, Martin Heller, diagnostizierte der Politik Mutlosigkeit bei der Finanzierung von Kulturprojekten.
 

 

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Hector Herzig initiierte das FMB 2007 und leitete fünf Tagungen bis 2012.

2012 verabschiedete sich Hector Herzig als VMS-Präsident, und das fünfte FMB war auch das letzte unter seiner Leitung. Es war logischerweise von der bevorstehenden Abstimmung geprägt. Ein gedämpfter Optimismus über die mittelfristigen Auswirkungen eines künftigen Verfassungsartikels war zu spüren. Den grössten Erfolg der Tagung verbuchte ein Referent, der gar nicht anwesend war. Der Neurobiologe Gerald Hüther musste kurzfristig absagen und liess stattdessen ein spannendes Video zum Thema «Was wir sind und was wir sein könnten» zeigen.

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Christine Bouvard übernimmt am Schluss des FMBs 2012 von Hector Herzig die Verantwortung für die Tagung.

Die Trafo-Epoche II: basisnahe Themen

Mit der Stabübergabe an die neue VMS-Präsidentin, Christine Bouvard Marty, und nach der gewonnenen Abstimmung verordnete man sich eine zweijährige FMB-Denkpause. Die Arbeit des VMS-Vorstands stand fortan im Zeichen der Umsetzung des neuen Verfassungsartikels 67a. An den Foren widmete man sich vermehrt den «basisnahen» Musikschul-Wirklichkeiten. Unter dem Dachthema «Schlüssel zum Erfolg» ging es am FMB 2014 um die Begabtenförderung – eines der Themen, die nun neu in der Verfassung verankert waren. Unter den Referierenden blieben einige in lebhafter Erinnerung: Graziella Contratto mit ihren scharfsinnigen Analysen, der Musikpsychologe Stefan Kölsch zum Thema Musikalität, die Erziehungswissenschaftlerin Annette Tettenborn zum Prozess des «Begabtwerdens», Hacı-Halil Uslucan, Professor für moderne Türkeistudien, zum Thema Musikalität und Migration. Der Präsident von Swiss Olympic, Jörg Schild, gewährte Einblicke in die Sportförderung, ermöglichte Quervergleiche und brachte die Musikförderer auf neue Ideen. Helga Boldt präsentierte eine vom Volkswagenkonzern finanzierte Schule, die auf der «grünen Wiese» nach neusten pädagogischen Grundsätzen errichtet wurde.

Erstmals wurden Best-Practice-Projekte aus den Musikschulen in einer grossen Posterausstellung präsentiert.

2016 lag der Fokus auf «Innovation und gelebtem Wandel». Der Erfinder Andreas Reinhard warb für eine Fehlerkultur in der Bildung, der Bildungsforscher Malte Petersen erläuterte das Prinzip des intuitiven Lernens, der Psychologe und Gitarrist Alan Guggenbühl gab sich als Gegner einer rein Output-orientierten Bildung zu erkennen. Timo Klemettinen gab ein Update zum finnischen Bildungssystem und schliesslich stellte Hector Herzig das neue Breitenförderungsprogramm des Bundes, «jugend+musik», vor.
Aufgrund der guten Erfahrungen mit den Best-Practice-Projekten wurde diese zu einem Wettbewerb erweitert.
 

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Andreas Weidmann, damals zuständig für die Kommunikation beim VMS, am FMB 2016.
2016 konnten die FMB-Teilnehmenden die Best-Practice-Projekten erstmals bewerten.

Die Zukunft winkt

Die beiden letzten Foren – wiederum im Trafo – beschäftigten sich mit Zukunftsszenarien. Das FMB 2018 setzte sich unter dem Titel «Veränderung: Chance oder Bedrohung?» mit dem Einfluss von Megatrends auf die musikalische Bildung auseinander. Altersforscher Jonathan Bennett wies auf die steigende Bedeutung älterer Menschen im Unterrichtsmarkt hin, der Soziologe Ueli Mäder diagnostizierte der Bildung einen Rückfall in mechanistische Rezepte. Joël Luc Cachelin warb für einen bewussten und kritischen Umgang mit der Digitalisierung. Die deutsche und die österreichische Musikschulwelt wurden durch Michaela Hahn und Ulrich Rademacher vorgestellt. Andreas Doerne und Stefan Goeritz sorgten mit der Präsentation einer Musikschule als «Lernort» für grosse Aufmerksamkeit. Beim Best-Practice-Wettbewerb durften sich die Teilnehmenden an der Kür der Besten beteiligen. Für einen witzigen Kontrapunkt sorgte das umwerfende Duo Calva.

Das vorerst jüngste FMB 2020 suchte «Wege zum Ziel» und nach «Chancen einer Gesellschaft im Wandel». Das Politische nahm einen grösseren Stellenwert ein, da die Vorberatungen für die neue Kulturbotschaft (2021–2024) in die entscheidende Phase kamen. Der Erziehungswissenschaftler Max Fuchs sprach über ein «Menschenrecht Musik», Nationalrat Markus Ritter verriet Tricks, wie man es schafft, in Bern politisch erfolgreich zu sein, David Vitali vom BAK erläuterte die geplante Umsetzung der Begabungsförderung (Verfassungsartikel 67a, Abs. 3) und Start-up-Gründer Jan Rihak präsentierte seine webbasierte Unterrichts-App. Der Höhepunkt der Tagung war ohne Zweifel der Auftritt des Soziologen Armin Nassehi. Er stellte die Frage: «Für welches Problem ist die Digitalisierung die Lösung?» und wertete die Digitalität in einer Reihe mit epochalen Errungenschaften wie dem Buchdruck oder der Dampfmaschine. Man darf gespannt sein auf die nächste Ausgabe im Januar 2023 unter der Ägide des neuen VMS-Präsidenten Philippe Krüttli.
 

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