Gemeinsamer Tag der Lehre – Digitale Transformation in der Hochschullehre

Am 29. November 2019 fand an der Hochschule der Künste Bern HKB der gemeinsame Tag der Lehre statt, den die KMHS organisierte. Ein Rückblick auf diese inspirierende Veranstaltung.

Matthias von Orelli — Die Veranstaltung richtete sich an alle Studiengangleiterinnen und -leiter sowie ausgewählte Vertreterinnen und Vertreter des Mittelbaus von Schweizer Musikhochschulen. Dabei wurden signifikante Themen der Veranstaltung des Vorjahres in Zürich wieder aufgenommen und aktuelle Entwicklungen diskutiert. Der erste Teil des Tages stand ganz im Zeichen des Impulsreferats von Prof. Andrea Belliger unter dem Titel «Digitale Transformation – das Phänomen jenseits von Lern-Apps und smarten Algorithmen» sowie dem Podiumsgespräch mit der Sängerin, Komponistin, Performerin und Multiinstrumentalistin Marena Whitcher (vgl. untenstehender Artikel). Der zweite Programmteil präsentierte unterschiedliche Sessions, in denen die aktuellen und drängenden Anforderungen an die Schweizer Musikhochschulen lebhaft diskutiert wurden.

Zukunftsfragen und Qualitätsmanagement

Zukunftsfragen spielten bei allen Diskussionen eine zentrale Rolle, so auch jene nach der künftigen Rolle der Dozierenden an den Schweizer Musikhochschulen. Claudia Wagner von der HKB moderierte das hierzu passende Diskussionsthema «Zwischen Fachexpertise und Care-Taking: Die zukünftige Rolle der Dozierenden». Die Teilnehmenden waren sich einig, dass die Fachexpertise an den Schweizer Musikhochschulen nicht verhandelbar sei. Da sich die Berufsoptionen heute aber vielfältiger und offener darstellen, kann es für Dozierende zu einer Herausforderung werden, die Studierenden auf das facettenreiche Berufsleben vorzubereiten. Mit Weiterbildungsangeboten und den teilweise bereits vorhandenen Beratungsstellen (für Stipendien, Karriereberatung, Konzertvermittlung u.a.m.) kann diesem Anliegen Rechnung getragen werden.

Peter Knodt (Dozent für Fachdidaktik Trompete, Verantwortlicher für Qualitätsmanagement Hochschule für Musik) von der FHNW stellte die Thematik «Qualitätskontrolle: Instrumente für ein hochschulspezifisches Qualitätsmanagement» vor. Unbestritten ist: Qualitätsmanagement ist als Lehrentwicklung zu betrachten. In der Praxis kann dies umgesetzt werden, indem bspw. Studierende die Lehre selber aktiv mitgestalten und die Dozierenden das Qualitätsmanagement selber mitentwickeln. Die Einsetzung eines sogenannten Chief Listening Officer, der/die entsprechende Anliegen annimmt, wurde ebenso besprochen wie die Möglichkeiten kollegialer Hospitation (eine solche findet statt, wenn eine Kollegin oder ein Kollege in einer Lehrveranstaltung als Gast teilnimmt und anschliessend Rückmeldungen gibt). Eher schlechte Erfahrungen macht man mit Qualitätsmanagement, wenn es ohne Rücksprache mit den Dozierenden als top down-Massnahme eingesetzt wird. Und: Die aktuell sich entwickelnden Digitalisierungsprozesse werden in Zukunft ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf eine Form und Inhalt von Qualitätsmanagement haben.

Karrieren und Pädagogik

Beatrice Zawodnik von der Haute école de musique Genève – Neuchâtel (HEM) nahm sich dem Thema «Zick-Zack-Karrieren: Die Förderung und Pflege neuer Studierendenprofile» an. Solche «Zick-Zack-Karrieren» werden, so war der Diskussion zu entnehmen, in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen, und auf solche Karrieren-Profile gilt es besonders zu achten und einzugehen. Im Kontext derartiger Studierendenprofile muss aber von Seiten der Musikhochschulen auf die Vorbereitung oder Begleitung der Studierenden beim Lernen besonders geachtet werden, weil sich ein Spannungsfeld zwischen Kanon und Individualisierung, aber auch zwischen inhaltlicher Öffnung und Fokussierung ergibt. Diese Abwägungen müssen sorgfältig ausgehandelt werden.

Christoph Brenner, der Direktor vom Conservatorio della Svizzera italiana CSI, stellte sein Thema unter den Titel «Musikpädagogik: zwischen Talentförderung, Sozialassistenz und have fun». Es wurde betont, dass die Motivation ein zentraler Faktor in der Musikpädagogik darstellt. Das Berufsumfeld ist auch auf diesem Gebiet heute deutlich anspruchsvoller geworden, daher sind Zeit und Reife elementare Bestandteile einer pädagogischen Ausbildung. Ein weiterer Aspekt, der zur Sprache kam, war die optimale Gestaltung von Übergängen und Scharnieren zwischen Studiengängen oder Schulstufen.

Mit dem Thema «Superdiversity: Welche Gesellschaft für welche Studierenden und vice versa?» nahm sich Graziella Contratto von der HKB einem ebenfalls aktuellen Thema an. Zwar sind die gesellschaftlichen Anspruchsgruppen heute komplexer und gemischter geworden, doch haben gerade Musikhochschulen bereits eine langjährige Erfahrung mit einer vielfältigen, diversen Studierendenschaft. Doch wie erreicht man damit weiterhin eine gesellschaftliche Akzeptanz? Und wie sollen Musikhochschulen damit umgehen, wenn kulturelle Errungenschaften oder Traditionen plötzlich wegzubrechen drohen? In der Diskussion wurde festgehalten, dass es umso wichtiger sei, neue Formate zu entwickeln und zu bespielen. Die Integration aussereuropäischer Musiktraditionen und -kulturen, die Förderung der Sprachkompetenz der Studierenden, die Entwicklung innovativer Vermittlungsformate sind nur drei Möglichkeiten, mit denen man versuchen kann, Trends zu antizipieren, anstatt diese nachbilden.

Insgesamt bot der zweite «Tag der Lehre» der KMHS nicht nur Gelegenheit zur Diskussion drängender Fragen in der Musikausbildung, sondern auch die Möglichkeit zum informellen Austausch. Die angeregten Diskussionen zeigten, dass dies einem grossen Bedürfnis entspricht.

Peter Kraut — Das Input-Referat am Tag der Lehre der Schweizer Musikhochschulen, gehalten von Frau Dr. Andrea Belliger, Mitglied der Hochschulleitung und Dozentin an der PH Luzern, sorgte für einigen Gesprächsstoff. Die studierte Theologin beschrieb Aspekte einer neuen Bildungskultur und betonte die Umbrüche, Systemwechsel und Werteverschiebungen, welche durch die digitale Transformation befeuert werden. Eine der prägenden Veränderungen ist dabei der Übergang vom Denken und Organisieren, vom Arbeiten und Lernen in Netzwerken statt in (alten) Systemen. Netzwerke sind durchlässig, kennen keine festen Hierarchien, sind komplex und heterogen, konstituieren sich selbst, wandeln sich ständig und haben ihre eigenen Werte und Normen. Systeme im herkömmlichen Sinne jedoch, und dazu gehören auch Musikhochschulen, orientieren sich an Hierarchien, einem mehr oder weniger verbindlichen Wertekanon und vordefinierten Prozessen. Das «neue Lernen», flankiert von unzähligen neuen technologischen Begleitern wie Apps, digitalen Plattformen, Software, digitalen Börsen etc. wird beschrieben als fluid, responsive, kollaborativ. Lernen finde(t) heute sozial, mobil, in Gruppen und agilen Settings statt. Es gehe heute vermehrt um kontextbezogene Prozesse und das Spielerische, so die Referentin.

Chancen und Gefahren

«Konnektivität» ist in dieser Entwicklung ein zentraler Begriff. Andrea Belliger verwies auf die Tatsache, dass heute globale Firmen wie Uber, Air B‘n‘B, Facebook etc. den Markt und den Diskurs bestimmen und dabei vor allem Verbindungen zwischen Netzwerkusern erstellen, ohne ein Hardware-Produkt im eigentlichen Sinne herzustellen. Die Begleittechnologie nicht nur des modernen Lebens, sondern auch des Lernens, ist heute vermehrt cloud-basiert, sozial und mobil, YouTube ist die grösste Lernressource überhaupt, hier etablieren sich neue Formen, Erzählweisen und es eröffnen sich neue Perspektiven auf alte Themen. So hat bspw. die vom ehemaligen Hedgefonds-Manager Salman Khan 2008 gegründete, frei zugängliche «Khan Academy» heute um die 4‘000 Lernvideos online vor allem im Bereich der Naturwissenschaften. Die Frage ist aber: Was bedeutet dies nun konkret für den Musikunterricht? Wie sich in den späteren Workshops am Tag der Lehre zeigte (vgl. obiger Artikel), haben die Schweizer Musikhochschulen unterschiedliche Ressourcen und Tools zur Verfügung, wenn es um e-Learning geht. Wo früher ein simpler Blog eine Vorlesung begleitete, kommen heute avanciertere Programme zur Anwendung, die partizipative und offene Formen des Lernens ermöglichen. Während Andrea Belliger hauptsächlich auf Chancen und Herausforderungen dieser Entwicklung einging, thematisierte die Diskussion dann vermehrt die Gefahren und Kollateralschäden, die mit damit auch verbunden sein können: zu passive, konsumistische Lernerwartung, unkontrollierbarer und undurchsichtiger Einfluss kommerzieller Anbieter neuer Technologien, intransparente Filter und anderes mehr. Gerade in einem Kulturfeld, das u.a. geprägt ist durch hohen emotionalen Ausdruck, Körperbewusstsein, Instrumentenbeherrschung, Gruppenkommunikation und -Feedback, durch Gestaltungswille für Klänge und Kontexte, Räume und Zeiten, sind neue Lernsettings kritisch zu befragen. Dass neue Technologien und Lernumgebungen eine schnell wachsende Realität sind, wird kaum jemand bestreiten wollen. Wie die Musikhochschulen dadurch in Zukunft geprägt werden, hängt auch davon ab, welche praktische und ethische Handhabung die Verantwortlichen angesichts dieser Herausforderung wählen.

Aufwändige Umgebungs-arbeiten

Einen Einblick in die soziale, ökonomische und digitale Realität des Musiklebens einer freischaffenden Sängerin/Performerin bot anschliessend ein Gespräch mit Marena Whitcher (Eclecta, Shady Midnight Orchestra u.a.m.). Die junge Musikerin ist auf zahlreichen Plattformen aktiv, performt in unterschiedlichsten Kontexten und muss deshalb – auch weil sie kein externes Marketing hat – einen grossen Teil ihrer Arbeitskraft in die Bewirtschaftung sozialer Medien, in Back Office und Booking investieren. Für die eigentliche kreative Arbeit bleibt da oft wenig Zeit. Zwar ist Marena Whitcher digital hoch vernetzt, aber das erfordert einen hohen Aufwand. Doch auch hier gilt: Das sind Marktrealitäten, die auf die Ausbildung in den Musikhochschulen zurückwirken. Nebst dem künstlerischen Fach ist allgemeine Medienkompetenz heute eine wichtige Voraussetzung, um sich als Musikerin oder Musiker erfolgreich zu behaupten. Das lernen Studierende aber nur, wenn auch die Dozierenden diese Entwicklung einschätzen und antizipieren können. Musikhochschulen werden sich also in Zukunft nicht nur mit den technologischen Entwicklungen der Digitalität, sondern auch mit dem delikaten Umgang mit Kunst zwischen Kreation, Kommunikation und Konnektivität auseinandersetzen müssen, um für die künftigen Absolventinnen und Absolventen intelligente Angebote zu entwickeln.

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