Kur- und Hotelorchester im Engadin

In einem Forschungsprojekt an der Universität Basel wird die facettenreiche Geschichte der Kur- und Hotelorchester im Engadin erforscht. Eine Ausstellung und eine Tagung im Juni geben allen Interessierten Personen die Möglichkeit, mehr über das faszinierende Phänomen zu erfahren

Helen Gebhart — Spaziergänge durch Wälder und über zugefrorene Seen, Damen und Herren in eleganten Kleidern, die im Grand Hotel Tee schlürfen oder den Wintersportlern zuschauen, welche über die Eisbahnen flitzen. So könnte man sich eine Szene im Engadin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorstellen. Ab den 1860er Jahren kam zu diesem Bild ein weiteres Phänomen dazu: die verschiedenen Kur- und Hotelorchester, die die zahlreichen Aktivitäten der Gäste musikalisch umrahmten. Diese Orchester, oft zugehörig zu einem oder mehreren Hotels oder einem Kurverein, bestanden mehrheitlich aus Musikern und Musikerinnen, die für die Saison aus Italien und Osteuropa ins Engadin kamen.

Die Anlässe und Orte an denen gespielt wurde waren vielfältig, wie auch ungewöhnlich: Musik wurde in den Hotels zu Bällen und zum Tee, an sinfonischen Konzerten, aber auch draussen im Wald sowie neben den Eisplätzen und bei der Skischanze gespielt. Von den Kur- und Hotelorchestern war deswegen eine erstaunliche Flexibilität gefordert: Die Orchester spielten oft acht Stunden am Tag in verschiedenen Besetzungen und mussten ihre Instrumente und kistenweise Notenpapier zwischen den Hotels, den Eisbahnen oder auch zu den Mineralquellen hin- und hertransportieren, bevor sie dann die ganze Nacht zum Tanz aufspielten. Wenn sich die Gäste warm eingepackt um die Bobbahnen scharten, oder den Skispringern zusahen, wagten sich die Musiker und Musikerinnen mit ihren Instrumenten wortwörtlich auf das Eis und sorgten mit wohl klammen Fingern für die musikalische Umrahmung.

Das gespielte Repertoire wandelte sich im Laufe der Zeit. Im späten 19. Jahrhundert konnte man oft Bearbeitungen von Operetten und Arien hören, aber auch Polkas und virtuose Werke. Ab Ende des ersten Weltkriegs kamen Modetänze und Jazzmusik hinzu, variiert wurde das Repertoire auch abhängig vom Geschmack der Gäste. Die Tradition der Kurorchester im Engadin ist bis heute ungebrochen: Im Taiswald bei Pontresina trifftman heute die Camerata Pontresina an oder kann in St. Moritz den Klängen des Salonorchester St. Moritz lauschen.

Unerforschte Geschichte

Die Geschichte dieser Orchester ist in der Literatur noch wenig dokumentiert. Das Forschungsprojekt an der Universität Basel, geleitet von Matthias Schmidt und Mathias Gredig, bringt diese facettenreiche Geschichte ans Licht. Das Projekt entsteht im Auftrag und durch Unterstützung des Instituts für Kulturforschung Graubünden. Genau wie die Vielfältigkeit des Repertoires und Besetzung der Salonorchester ist auch das Quellenmaterial sehr unterschiedlicher Art. Mathias Gredig hat, teils mit Hilfe von Studierenden der Universität Basel, Stunden in den Archiven von Hotels, Vereinen und Gemeinden verbracht und Kisten mit Protokollen, Dokumenten und Verträgen durchforstet, um ein möglichst genaues Bild dieses Phänomens zu bekommen. Musikalische Hinweise lassen sich überall finden und alle Thesen werden aus dem umfangreichen Archivmaterial und Dokumenten abgeleitet, erzählt er begeistert von seiner Arbeit. Als Teil des Forschungsprojekts werden im Juni eine Ausstellung in Pontresina und eine Tagung in St. Moritz und Pontresina veranstaltet.

Ausstellung und Tagung

Die Ausstellung namens «Höhen-musik. Orchester der Hotels und Kurvereine im Engadin» findet vom 6. Juni bis 22. Oktober 2022 und 19. Dezember 2022 bis 15. April 2023 im Museum Alpin in Pontresina statt. Sie präsentiert anhand zahlreicher Text- und Bilddokumente aus den Archiven und aus vielfältigen Blickwinkeln die Geschichte der Engadiner Kur- und Hotelorchester. Studierende der Universität Basel haben an der Ausstellung mitgearbeitet und u.a. mit jetzigen Mitgliedern der Kurorchester Film-Interviews geführt. Eigens für die Ausstellung werden von einer Theatermalerin zwei Kulissen gemalt, welche die Landschaft des Engadins und die Schauplätze der Orchester zeigen. Ein weiterer Film zu den Eiskonzerten, ferner eine Hörstation mit Klangbeispielen und ein klangvolles Modell stehen den Besucherinnen und Besuchern zur Verfügung.

Die internationale Tagung «Salonorchester der Alpen» vom 24. bis 26. Juni im Hotel Reine Victoria St. Moritz sowie im Taiswald, im Hotel Saratz und im Museum Alpin in Pontresina kann in zwei methodische Blöcke geteilt werden. Ein Teil der Beiträge basiert auf Text- und Zahlendokumenten, wie etwa Protokollen und Verträge mit Musikern, und befasst sich mit Themen wie Arbeitsmigration, Balneologie, Ökonomie, Tänzen oder Schlittenfahrten.

Ein anderer Teil basiert auf Notendokumenten und darin werden Themen wie Exotismen, Genre Transfers, Neue Musik oder Klangfarben in der Salonmusik diskutiert.

Ausserdem treten während der Tagung regelmässig Formationen der Engadiner Salonorchester auf.

Ausstellung Museum Alpin Pontresina

6.6 bis 22.10.2022 und 19. 12.2022bis 15.04.2023

> www.pontresina.ch/museumalpin

Tagung Salonorchester

24.–26. Juni, Hotel Reine Victoria in St. Moritz sowie Taiswald, Hotel Saratz, Museum Alpin in Pontresina

Info und Anmeldung:

info@kulturforschung.ch

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