
Reihe 9 # 34
Musikgeschichte(n) gibt es an nahezu jedem Ort der Welt. In mancher Metropole muss man sich dabei schon mal durch das wuchernde Dickicht der Ereignisse und Stätten schlagen (Wien wäre eine solche Stadt), woanders bedarf es dann eher eines guten Tipps oder der zufälligen Erinnerung an etwas Gelesenes oder beiläufig Bemerktes. So etwa im verschlafenen Ettal in den Ammergauer Alpen: Wer hätte geahnt, dass ausgerechnet im Schatten der hochbarocken Benediktinerabtei in den Jahren 1922/23 Sergej Prokofjew an seiner Oper über den «Feurigen Engel» arbeitete (womöglich gar als Gegenentwurf zu den Oberammergauer Passionsspielen, die 1922 stattfanden). Oder Meran in Südtirol. Ein Kurort mit Tradition, in dem sich auch schon Max Reger für ein paar Wochen im Frühjahr 1914 aufhielt. Er erholte sich etwas oberhalb der Stadt im Sanatorium Martinsbrunn (das noch immer existiert) von einem kurz zuvor erlittenen physischen und psychischen Zusammenbruch. Wenigstens versuchte er das, denn die geistige Frische kam dann doch erst mit Notenpapier und Feder zurück. So entstanden hier die Präludien und Fugen für Violine allein op. 131a – auch eine Form der Erholung.
Und heute? Wie schon damals ist die Reise nach Meran mit dem Zug ein Erlebnis – entweder westlich von Mals aus durch das Vintschgau oder (wie einst Reger) vom Norden her über den Brenner. Musikalisch ist es seit 34 Jahren das Südtirol-Festival, das in der Region kräftig Akzente setzt. In diesem Jahr konnte mit dem 500. Konzert gar ein richtiges Jubiläum gefeiert werden – standesgemäss mit dem London Symphony Orchestra und Simon Rattle. Doch nicht nur grosse Namen machen das Festival interessant, sondern die gelungene und keineswegs bloss beliebige Mischung aus allen Gattungen und Epochen. Und das Festival richtet sich auch nicht exklusiv an die zahlungskräftigen und nach abendlicher Unterhaltung Ausschau haltenden Kurgäste. Es kommt darüber hinaus zu den Menschen vor Ort, so in den umliegenden Pfarrkirchen und Schlössern von Partschins, Marling, Lana und Schenna. Wie schön die Kontraste dabei sein können, zeigte sich an zwei Abenden im September: satte Barockmusik im historischen Palais Mamming (mit dem Ensemble Los Temperamentos) und entschlackte Romantik im vom Jugendstil geprägten Kursaal (Bruckners Messe e-Moll und 2. Sinfonie mit dem Collegium Vocale Gent und dem Orchestre des Champs-Elysées unter Philippe Herreweghe). So schön kann der verlängerte Sommer klingen.
Ihr
Michael Kube
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- Andächtiges in e-Moll. Bruckner-Messe in Meran.