
Reihe 9 # 55
Bedurfte es wirklich erst einer Pandemie und dann auch noch eines Rettungsprogramms der deutschen Bundesregierung mit dem schönen Namen «Neustart Kultur», um medial innovative Hybrid-Ideen auf die Bühne und den Schirm zu bringen? Die Suche nach neuen Erzähl- und Ausdrucksformen ist wohl so alt wie die Menschheit – auch wenn mancher «Bewahrer» das anders sehen mag. Der äussere Stillstand hat viele künstlerische Akteure, trotz aller Not, im Inneren nicht ins Leere stürzen lassen: Gerade die Krise wirkte in der Kulturgeschichte schon früher als Ausgangspunkt kreativen Schaffens und der künstlerischen Reflexion. Doch statt kurzfristiger Hilfen ist eine langfristige Perspektive gefragt. Statt der Giesskanne mit wenigen Tropfen muss bei der Politik ein breiteres Engagement in Sachen «Kultur» eingefordert werden – einmal mehr, schon wieder, immer noch.
Vergessen wird oft die so wichtige Aufgabe von Kunst im Allgemeinen, die jeweilige Gegenwart zu kommentieren. Es ist ein Missverständnis, dass mit jeder Uraufführung ein «Meisterwerk» das Licht der Welt erblicken muss (es würde ohnehin im schwerfälligen Räderwerk des Repertoires zermahlen werden). Vielmehr geht es seit jeher um Experimente, um Grenzverschiebungen. Vor allem aber geht es um Fragen. So auch an jenem Abend im Festspielhaus Hellerau (Dresden) durch das Künstlerkollektiv «theatrale subversion». Unter dem Titel Lebende Minus Tote war ein multimediales, nach drei Tagen nochmals im Internet dargebotenes 360°-Erlebnis konzipiert worden, an dem sich (auch) die vergangenen anderthalb Jahre spiegeln, ausgehend von der Überlegung: Wie trauern wir? Vokale Untermalung, akustische Zuspielungen, ein Bach-Choral und Enyas Only time gaben einzelnen Etappen musikalischen Halt, bis am Ende das im Kreis angeordnete Publikum in eine quasi rituelle Handlung einbezogen wurde. Dass in der Performance nicht alle aufgerufenen Motive durchgeführt wurden (etwa die Skala der Emotionen), dass manches in Andeutungen stecken blieb (die Bedeutung der Zahl Drei), dass manche Aktion banal wirkte, Banales aber auch entlarvt wurde (bee, dah, bah, hey), dass man sich zum Schluss gar fragen musste, ob man mit der ausgehändigten symbolischen Münze nun (und in Umkehrung des antiken Mythos) wieder in das Reich der Lebenden treten durfte – geschenkt. Es blieben andere Szenen haften, die eigenes Erleben wieder in Bildern hervortreten liessen. Nicht aufgelöst wurde auch die beklemmende Überlegung, was mit all jenen Leuten passiert, die Charon für die letzte Überfahrt nicht entlohnen können: «Was ist mit den ganzen Leuten, die nicht bezahlen? Was mit den Toten, die vergessen worden sind?» Einst waren sie dazu verdammt, einhundert Jahre an den Ufern des Styx ausharren. Für die Gegenwart tun sich indes andere Vorstellungen auf …
Ihr
Michael Kube
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- Foto: mku
- Dresden-Hellerau – ein lebendiger Ort für zeitgenössische Kunst