Reihe 9 # 64
Schon die Wikinger hatten sie farbig auf ihren Segeln, in der Mode gibt es sie seit Jahrzehnten in allen erdenklichen Variationen als Look: Streifen. Entscheidend ist in der Oberbekleidung dabei meist ihre Breite und die Frage, ob sie horizontal oder vertikal verlaufen, zum Vor- oder Nachteil der jeweiligen Figur. Kaum jemals aber begegnen sie einem in Kunst und Kultur. Umso erstaunter war ich beim Eintritt in den grossen Saal des Festspielhauses St. Pölten. Das Haus selbst nennt die sich über alle 1079 Plätze ziehende muntere Streifung in Schwarz-Weiss ein «Markenzeichen» – sie dürfte tatsächlich in derartigen Räumen einmalig sein und lässt vermuten, dass Architekt und Ausstatter zu den Juve-Fans zählen. Aber Hand auf Herz: Haben Sie schon einmal über die Farbigkeit des Sitzbezugs in einem Konzert- oder Opernhaus nachgedacht? In der Regel herrscht ein sattes Rot oder Weinrot vor, gelegentlich findet man ein Blau, Grau oder Schwarz in allerlei Schattierungen, manchmal auch eine schon in die Jahre gekommene Melange. Bleibt das neuere, übergreifende Farbmuster im Boulez-Saal unaufgeregt und fügt sich belebend in den Raum (siehe Reihe 9 # 59), so wird man in St. Pölten von der spielerischen Ästhetik und den Farbkombinationen der 1990er-Jahre vollständig umfangen.
Nur eine halbe Zugstunde von Wien entfernt, steht in der niederösterreichischen Landeshauptstadt dieses Festspielhaus, das vor 25 Jahren seine Pforten öffnete und noch immer einen erfrischenden architektonischen Gegenpol zu Musikverein und Konzerthaus darstellt. Auch sitzt es sich um vieles bequemer, sowohl was die Breite der Plätze angeht als auch den Abstand der Reihen: Da stellt sich rasch Wohnzimmer-Atmosphäre ein, es erwartet einen Musikgenuss mit Business-Class-Feeling. Doch wie so oft (auch und gerade bei Neubauten des 20. und 21. Jahrhunderts) muten die Treppen in den Rang und auf den Balkon etwas schmal und kahl an, die der Gastronomie zugewiesenen Räumlichkeiten sind irgendwie unpraktisch und selbst mit aktuell weniger Tischen eng. Und die Akustik? Sie ist erfreulich direkt, legt offen und zeichnet nach. Dies betrifft vor allem die Bläser, die unverstellt in die oberen Reihen des Parketts abstrahlen – gut zu hören bei einem Konzert des Niederösterreichischen Tonkünstler-Orchesters mit Bruckner 3. Das Haus ist mehr als nur einen Blick wert, und es öffnet die Augen für die vielerorten gebotene optische Langeweile.
Ihr
Michael Kube
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- Foto: mku
- Nur in dieser Saison spiegelt Eva Schlegels «Extended Space» im Foyer.