Tartinis Theorie des dritten Tones

Beim Spielen von Zweiklängen auf der Geige erklingt ein dritter Ton. Die Schweizerin Angela Lohri hat sich in ihrer Dissertation anhand von Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit den Kombinations-, Differenz- und Summationstönen beschäftigt.

Foto: Tobias Kunze/pixelio.de

1714 entdeckte der 22-jährige italienische Geiger und Komponist Giuseppe Tartini, dass beim Spielen von Zweiklängen auf seiner Geige ein dritter Ton («terzo suono») erklingt. Ab 1728 machte er dieses Phänomen für die Zöglinge seiner Schule zur fundamentalen Regel für die Einstimmung, was europaweit bekannt wurde. 1754 und 1767 publizierte er seine Forschungen und diskutierte sie u. a. mit Leonhard Euler. Tartini berichtete, schon Platon hätte davon gewusst und es als ein Zeichen der Weltseele gedeutet: «(…) die Harmonie des Universums ist der ganze Baum; die Musik ist davon ein Ast, jedoch notwendigerweise von gleicher Natur und Wurzel, was die der menschlichen Spezies angeborene Musik offensichtlich beweist, da sie allein befähigt ist zur Wissenschaft der Zahl. In diesem Sinne gibt es in der Zahl Wissen und Natur, (…) und in diesem Sinne ergibt sich die Möglichkeit, den Baum über den Ast zu entdecken, das Ganze vom Teil aus (…)»

Diese harmonikale Sicht Tartinis wird in der heutigen Forschung wieder vermehrt beachtet, besonders seit die neurologischen Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Ohr und Gehirn zugenommen haben. Die ganzzahlige Ordnung der Obertöne, die allen Klängen immanent ist, wird physiologisch als grundlegend bei der alltäglichen Tonerkennung angeschaut. In den letzten 300 Jahren fanden Forscher immer neue Wege, dem oder besser den Kombinations-, Differenz- und Summationstönen auf die Spur zu kommen.

Die Schweizerin Angela Lohri breitet in ihrer Dissertation die Komplexität und Vielschichtigkeit des Phänomens anhand von Primärquellen mit Fokus auf das 18. und 19. Jahrhundert aus und erklärt die Unterschiede. Sie kommt auf Tartinis ganzheitliche Betrachtung zurück: Der dritte Ton sei der Bass des Zweiklangs und ihrer gemeinsamen Obertöne, also die Einheit in der Vielheit; die Obertöne wiederum stellen die Vielheit in der Einheit dar. Um dies zu illustrieren komponierte er 26 zweistimmige Piccole Sonate für Violine, ohne den Bass dazu zu schreiben: der entstehe von selbst. Tartini wehrte sich gegen die Einseitigkeit von zeitgenössischen Gelehrten und Musikern und betonte, seine Theorie gelte physikalisch (die Kombinationstöne entstehen in der Luft), harmonikal (siehe obiges Zitat) und musikalisch-praktisch als Einheit.

Zum musikalischen Aspekt trägt Lohri Wesentliches bei: Auf Saiteninstrumenten ohne Bünde wie der Violine kann man zwei syntonische Töne (mit ganzzahligen Verhältnissen) spielen und mit den Kombinationstönen exakt kontrollieren, da diese auch bei kleinsten Veränderungen des Fingers auf der Saite sehr deutlich reagieren. Z.B. beim Tritonus kann man den harmonischen Kontext (ist der untere oder der obere Ton der Leitton?) verdeutlichen, hat man doch bei subtiler Einstellung zwei verschiedene Kombinationstöne zur Auswahl! Lohri berichtet von ihren Hörexperimenten mit verschiedenen Geigen und Saiten, wie sie bisher Pierre Baillot und Michelangelo Abbado ähnlich durchgeführt haben. Diese Studien führten sie auch nach Stockholm, wo sie mit einer Streichmaschine noch exakter arbeiten konnte. Das Problem mit der temperierten Stimmung wird philosophisch angegangen, indem Hans Kayser und Dieter Kolk zu Worte kommen: Toleranz zwischen Idee und Wirklichkeit sucht sich mit begrenztem Spielraum einen Weg durch «unsere ganzen Natur- und Geistesbetrachtungen».

Meine Empfehlung zum Studium dieses Buches für Musiker, Instrumentenbauer und als Anlass zu weiterführenden Forschungen untermauere ich mit je einem Zitat von Angela Lohri: «Die Bedeutung der Kombinationstöne liegt … in ihrer Wirkung und Eignung als Methode zur Sensibilisierung der Tonvorstellung … Ihre mathematisch-harmonikalen Eigenschaften verraten uns mehr über das tiefere Wesen der Musik.» Und von Gerhard Mantel: «Streicher an Musikhochschulen verwenden 70-90 Prozent ihrer Übungszeit auf die Verbesserung der Intonation.» Das gedruckte Buch ist sehr hilfreich beim Studium, das viel Vor- und Zurückblättern nötig macht. Der fehlende Index wird vorteilhaft ersetzt durch eine perfekte Suchfunktion bei der elektronischen Variante.

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Angela Lohri, Kombinationstöne und Tartinis «terzo suono», 316 S., 94 Abb. und Notenbsp., freier Download, Paperback € 49.99, Hardcover € 55.99 Schott, Mainz 2016,
ISBN 978-3-95983-079-9

 

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