Die CD-Krise gibt es nicht

Interview mit Patrik Landolt

Das Intakt-Team 2016 mit Patrik Landolt, links aussen. Foto: Michelle Ettlin

 

Könnten wir von dir zum Anfang bitte einen kurzen Abriss von der Geschichte von Intakt Records bekommen?
Patrik Landolt: Man kann so anfangen: 1984 habe ich das Taktlos-Festival mitveranstaltet mit Bern zusammen. Da gab es einen Schwerpunkt, Irène Schweizer mit internationalen Gästen wie Joëlle Léandre, Maggie Nicols, George Lewis aus New York, Günter «Baby» Sommer aus Dresden. Ein freies Festival war das, und drei Tage lang hat Radio DRS alles aufgenommen. So hatten wir die Bänder von dem Festival. Wir dachten, am besten machen wir eine Platte um Irène herum. Denn Irène war sehr unterdokumentiert damals. Sie hatte bei FMP Sachen herausgegeben, aber die waren zum Teil in der Schweiz nicht einmal erhältlich. So machten wir die Platte, Irène live at Taktlos, mehr weil die Bänder sonst niemand wollte. Das war der Anfang. Die zweite Platte kam dann relativ schnell. Auch das war eine internationale Sache mit dem gesamten Londoner Jazz Composers Orchestra mit Anthony Braxton.

Warum haben solche Leute ihre Platte von einem Amateur in Zürich herausgeben lassen?
Es war immer so, dass die freie kreative Musikwelt von den grossen Multis nicht herausgegeben wurde. Ein Multi hat in den 70er-Jahren die Loftszene in New York mit einer Serie dokumentiert. Sie hiess Wild Flowers. Die dachten, das wird das grosse Geschäft, und es wurde DER Flop. Sie haben nicht mehr als ein paar hundert von den Boxen verkauft. Das war einer der historischen Momente, wo sich das Big Business vom Jazz verabschiedet hat. Sie merkten, mit dem kann man kein Geld verdienen. Heute ist es klar, die drei verbliebenen Majors haben sich weitgehend von dieser Musik verabschiedet. Was sie schon gar nicht machen, ist Aufbauarbeit von neuen Künstlern. Diese Aufgabe lag schon immer bei kleinen Independents. Vielleicht haben wir dann auch noch besonders vertrauenswürdig ausgeschaut! Es war schon erstaunlich, erstes Album Irène, zweites Album mit LJCO mit Braxton und so, war tolle Sache gewesen.

Du warst kein Rock-Fan?
Das war ich doch auch. Das hat sich nicht ausgeschlossen gegenseitig. King Crimson, da war ich ein totaler Fan. Aber schon im Gymnasium habe ich mich intensiv mit Jazz beschäftigt. Miles, Coltrane, Roland Kirk. Da war ich 15, 16 Jahre alt. Das Roland Kirk-Album mit Beatles-Covers – unglaublich!

Wenn ich mich richtig erinnere, hast du Intakt dann lange Zeit eher als Hobby betrieben, oder?
Genau, als ein Hobby, das sich immer mehr verbreitete. In den frühen Zeiten habe ich noch als freier Journalist gearbeitet, Tagi, Radio, verschiedene Zeitungen. Dann bin ich 20 Jahre Redaktor bei der WoZ gewesen, auch in der Geschäftsleitung. Das hat mir ein bisschen die Energie vom Festival-Organisieren weggenommen. Nach 10 Jahren Taktlos bin ich dort ausgestiegen.

Lang war alles bei dir zuhause. All die Platten sind in deiner Wohnung herumgestanden.
Die ersten Jahre war Intakt im Keller. Ich war jung, hatte kein Geld und darum auch kein Lager. Man musste auch selber alles zuerst lernen und entdecken. Alles war Trial-and-Error. Wir sind die Sache sehr schweizerisch angegangen – sich ja nicht verschulden, ganz kleine Schritte, ein langsamer aber sicherer Aufbau. Langsam wurde ein Back-Katalog entwickelt, und so ist eine gewisse ästhetische Richtung entstanden. Die Vielfalt und Fülle entstand durch langen Prozess, nicht durch einen Businessplan. Heute würde man an einer Hochschule das Entwerfen eines Businessplan erlernen. Bei uns ging es ganz allein von einer Riesenleidenschaft aus. Die ist bis heute geblieben. Alles andere hat man sich mit einer Schweizer Solidität erarbeiten müssen. Buchhaltungskurse absolvieren und so, an der Migros-Abendschule, damit man eine Bilanz verstehen und lesen konnte. Wir hatten von Anfang an auch eine sehr gute Buchhalterin, die hat auf höchstem Niveau gearbeitet. Das ist auch eine Stärke von uns. Das ganze Backoffice ist sehr solid. Musikerabrechnungen müssen transparent sein. Ein wichtiges Kriterium. Ist im Geschäft sehr unüblich.

Wenn du das alles selber erarbeitet hast, hast du sicherlich einiges an Lehrgeld bezahlen müssen. Kannst du dich an frühe Fehler erinnern?
Die allererste Platte steht verkehrt im Gestell. Wir haben sie falsch geleimt. Natürlich zahlt man immer Lehrgeld. Die meisten Fehler sind passiert aus einer Euphorie heraus, dass man zum Teil zu grosse Auflagen gemacht hat aus dem Gefühl heraus, «diese Platte ist so wahnsinnig gut, die wollen alle kaufen». Aber man lernt, dass man Euphorie nicht immer auf die Marktverhältnisse übertragen kann.

Kann man eine Rezeption überhaupt planen?
Vieles kann man nicht planen kann. Auch das war eine wichtige Erfahrung. Gerade im Musikbusiness gibt es viel Kontingenz und Zufälligkeiten. Was ich etwas Positives finde. Man kann Erfolg nicht planen. Auch die grossen können das nicht – fast nicht.

Wie gross waren am Anfang die Auflagen?
Von der ersten machten wir am Anfang glaub ich 2000. Das war noch Vinyl. Mit CD ist es einfacher. Da macht man meistens zwischen 1000 und 2000 Exemplare und druckt dafür mehr Drucksachen. Dann kann man in Tranchen nachpressen. Mit den Drucksachen geht es in 1000er-Schritten, mit CDs in 300er-Schritten. So kann man laufend nachpressen. In der Stadt sind Lager ja unbezahlbar.

Irène Schweizer ist das starke Rückgrat von Intakt?
Sie war von Anfang an dabei, ja. Wir haben ihre Biografie und ihr Leben begleitet über all die Jahre. Wir wohnen auch in der gleichen Stadt. Das finde ich auch noch wichtig, dass wir alle drei hier verwurzelt sind. Darum arbeiten wir auch oft mit Künstlern von hier. Pierre Favre. Lucas Niggli stiess noch früher zu uns als Pierre. Man versucht auch mit Jungen im Gespräch zu sein. Das ist etwas ganz wichtiges, eine gewaltige Herausforderung. Man ist dauernd in Bewegung. Muss sich dauernd mit neuen Sachen auseinandersetzen.

Wie stark ist diese Herausforderung mit der rasanten Entwicklung der Technologie verbunden?
Es ist auf jeden Fall so, dass einen nur schon die ganze Technologie dazu zwingt, am Ball zu bleiben. Wenn man bedenkt, was in der Musik passiert ist in den letzten 30 Jahren! Von Vinyl über CD über Downloads, dann Download in MP3-Qualität, gefolgt von CD-Qualität und jetzt sogar HiFi-Qualität. Rein schon die technologische Entwicklung zwingt einen zu einer unglaublichen Wachheit und Auseinandersetzung.

Wie gross ist der Anteil von Streaming bei den Verkäufen von Intakt? Ich könnte mir vorstellen, dass das Intaktpublikum ein klassischer Fall ist von einem Publikum, das noch etwas in der Hand haben will.
Ja, aber es läuft alles parallel. Allein in Amerika haben wir glaub ich 70 000 bis 80 000 Verkaufskontakte, und dazu gehören auch Streams. In den USA läuft unser Vertrieb über Naxos und Naxos Archive. Dieses kann man benützen, wenn man einen monatlichen Betrag zahlt. Wenn sich da jemand etwas von uns anhört, wird es auch als Kontakt registriert. Auf der anderen Seite haben wir in den letzten Jahren auch vom Katalog her einen Generationenwechsel durchgemacht. Wir verlegen heute viele viel jüngere Künstler, auch aus grenzüberschreitendenden Bereichen am Rande von Rock und Elektronik.

Ist die Verwurzelung von Intakt in Zürich auch dafür verantwortlich, dass diese stark ist?
Ja, man hat diese Musik hier vielleicht ein bisschen mehr gepflegt. Das hat auch einen Nachteil. Andere meinen, sie müssten nichts mehr machen, weil wir es machten.

Hat die Szene ihre Stammlokale?
Jahrelang hat das die Rote Fabrik gemacht. Das Unerhört Festival, an welchem Intakt beteiligt ist, findet in verschiedenen Locations statt, im Theater am Neumarkt oder im Rietberg. Auch in Altersheimen und verschiedenen Schulen organisieren wir Konzerte. Die älteren Semester sind zum Teil bestens informiert, sie haben Ansprüche, da kann man nicht einfach einen Studenten von der Jazzschule schicken! An den Gymnasien ist es dasselbe. Da bringen wir das Beste. Die merken sofort, wenn etwas nicht stimmt.

Wie viele junge Musikfans kommen an diese Veranstaltungen?
Im Stadelhofen kommen 300 bis 500. Es hängt von den Lehrern ab. Es ist ihnen freigestellt, aber zum Teil kommen ganze Klassen. Zum Beispiel hat eine Geschichtslehrerin vor dem Auftritt von Oliver Lake und William Parker zu den Schülern gesagt, der Besuch sei ihnen freigestellt, sie könne ihnen auch eine Aufgabe geben. Sie selber werde das Konzert bestimmt besuchen, denn von diesen Männern erfahre sie mehr über amerikanische Geschichte als aus allen Büchern.

Heute ist Intakt international zwischen New York und London und Deutschland extrem gut vernetzt. War es nicht wahnsinnig schwierig, von Zürich aus nützliche Beziehungen anzuknüpfen?
1988 nahm ich ein Sabbatical von der WoZ, fünf Monate New York. Da bin ich natürlich an all die Konzerte gegangen. Habe den Vertrieben einfach angeläutet. Habe mit meinem rudimentären Englisch versucht, ein Gespräch zu führen, bin sie dann auch besuchen gegangen.

Kann man sowas allein machen?
Es ist sicher eine lebenslängliche Leidenschaft, die man nur als Team machen kann. Wichtig ist an diesem Team, dass es dich quasi perspektivisch überdauert. Wenn man diese Wand anschaut mit all den CDs, da stehen ja unglaubliche künstlerische Werte. Die Urheberrechte. All die Aufnahmen. Jetzt sind wir bei 280 Titeln. Das sind 280 Werke, die es vorher nicht gegeben hat. Wir helfen mit, Musik zu schaffen und Realität zu schaffen. Und die steht dann da. Das Ziel ist natürlich, dass man als Verlag Verbreitung schafft und in die Zukunft trägt. Eine Irène Schweizer wurde letztes Jahr 75 Jahre alt und hat einen grossen Teil ihres Werkes bei Intakt veröffentlicht. Damit ist eine Riesenverantwortung verbunden. Was passiert, wenn ein Künstler gestorben ist? Wie bei Werner Lüdi, von dem wir auch eine wunderschöne CD haben, die immer noch im Katalog ist. Das ist eine grosse Verantwortung, die öfters einen einzelnen Verlag überfordert, wofür man vielleicht irgendwann die Hilfe einer Öffentlichkeit oder von Stiftungen braucht, damit die Pflege der ästhetischen Werte und die Verbreitung der Musik weiter garantiert werden kann.

Ich glaube du hast Preise gewonnen? Was für Preise?
Der erste war von der Suisse Culture, Dachverband aller Kulturschaffenden, ein sehr grosser Preis, ein ehrenvoller Preis. Denn dieser Verband zeichnet Kulturvermittler aus. Traditionell gibt es da immer Reibungen zwischen Künstlern und Vermittlern. Bei Labels erst recht, wenn man früher die Geschichten gehört hat wie die Schwarzen ausgenützt wurden. Sie haben einen Vertrag unterschrieben und damit alle Rechte abgegeben und dafür vielleicht 50 Dollar bekommen. Oder eine Flasche Whisky.

In der Schweiz ist die Förderung von Musik in der Art von Intakt ziemlich gut organisiert, oder täusche ich mich da? Ich habe den Eindruck, man wird etwa von den Engländern in dieser Hinsicht ziemlich beneidet?
Von aussen mag das wohl so aussehen. In meinen Augen ist die Infrastrukturförderung nicht gut. Im Bereich Buch hat der Bund erkannt: Wir müssen die Buchproduktion fördern, sonst geht plötzlich eine seit mehreren Jahrhunderten gewachsene Kultur zu Grunde. Im Bereich Musik-Produktion ist man noch nicht so weit. Gerade ist bekannt geworden, dass nun auch noch die Migros ihre Labels eingestellt hat. Hinter der Haltung steckt ein falsches Denken. Es reden immer alle von einer CD-Krise. Dabei gibt es diese gar nicht. Es gibt nur eine Krise vom Mengengeschäft. Es werden heute mehr CDs produziert und verkauft denn je. Aber heute hat man nicht mehr die 100 000er Auflagen. Die Vielfalt ist dafür massiv gestiegen. Kommt noch dazu, dass die CD bloss eine Form von Tonträger ist, nebst Vinyl, Downloads in verschiedener Qualität, und Streams. Die Bedeutung ist massiv vorhanden. Die Art der Verbreitung aber hat sich ausdifferenziert in ganz verschiedene Formen. Es wird heute gleich viel Musik gehört wie in den 90er-Jahren, als das CD-Geschäft boomte. Wer sagt, die CD habe heute an die Bedeutung verloren versteht nichts vom Geschäft. Und es gibt viele Förderstätten, die sagen, wir streichen die CD-Unterstützung, denn die steckt ja in einer Krise. Dahinter steckt eine vollkommene Verkennung von Musikproduktion. Musiker müssen immer noch ins Studio zum Aufnehmen, zum Schneiden und Mastern, und auch wenn man die Resultate als Download verbreitet, braucht es immer noch Marketing und Werbung.

Fast alle Alben, die Du herausgegeben hast, sind noch im Katalog. Gibt es Platten, die Du bereust und darum herausgenommen hast?
Nein, selbst wenn ich selber sie vielleicht nicht mehr anhöre. Es ist sowieso immer noch ein Zeitdokument. Oder es ist für den Künstler ein Teil der Biografie. Und das ist ja ganz wichtig, dass man das Werk und den Wert der Arbeit eines Künstlers immer im Zusammenhang des Gesamtwerks anschaut. Eine Irène Schweizer kann man nur verstehen, wenn man das Gesamtwerk anschaut. Wenn man nur ein Soloalbum nimmt, vor allem noch eines der ganz frühen, wo sie ganz frei spielt, da begreift man den künstlerischen Wert späterer Werke nicht. Man muss den Kontext anschauen und die einzelne Produktion im Werkkontext sehen. Das ist heute wichtiger denn je.

Wie ist die internationale Rezeption von Irène Schweizer heute?
Letztes Jahr in Schaffhausen ist sie anlässlich ihres 75. Geburtstages live aufgetreten, das kam in der Tagesschau. In Amerika würde sie wohl grosse Räume füllen, aber sie reist nicht gern. Und dann muss man noch Arbeitsvisa haben. Es ist für den Schweizer und europäische Künstler nicht einfach, in den USA aufzutreten. Was der Trump heute programmiert mit der Abschottung des Marktes ist schon seit eh und je so.

Wie ist das Verhältnis von Schweizer und internationalen Künstlern, die auf Intakt erscheinen?
Zwischen einem Drittel und der Hälfte sind Schweizer Künstler. Das reflektiert die Stärke der Szene. Aber wir streben eine Balance an. Auch Gender und Race sind ein Kriterium. Schwarze African-Americans wollen wir haben, denn das ist die Basis der Musik. Gerade diese neue Platte hier vom Trio 3, da hört man schon den Gesichtern die Musik an. Die Geschichte ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist uns auch wichtig, viele Musikerinnen im Programm zu führen. Das sieht man auch dem Londoner Festivalprogramm an.

Wie hat sich dein Geschmack und der Geschmack der Szene verändert über die 33 Jahre Intakt hinweg? Kann man Phasen mit anderen Auswahlkriterien unterscheiden?
Man folgt natürlich den Künstlern. Sie sind unsere Botschafter und auch unsere Verwandten. Sie sind viel unterwegs, es kommt immer mal wieder einer und sagt: Hast du das gehört? Und dann sind wir ein Team. Der Einfluss von Anja und Flo ist im Katalog hörbar. Und wir sind auch Kinder des Zeitgeistes. Wir sind zwar nicht modisch, aber es gibt schon auch Stimmungen, die wir absorbieren. Ich möchte glaube ich nicht mehr einfach so ein Free Jazz-Konzert wie in den 60er- und 70er-Jahren auf CD herausgeben. Weil das nicht mehr so zur heutigen ästhetischen und geistigen Verfassung passt.

Kannst Du das genauer erklären? Was ist anders geworden?
In den 60er- und 70er-Jahren ging in Zürich alles um elf Uhr zu. Man durfte nicht im See baden. Alles war so reglementiert und bürgerlich verklemmt. So waren in der Zeit in der Avant-Garde Faktoren wie Provokation, Tabu-Bruch, Collage, das Neue finden, ganz wichtige Elemente. Ein Lucas Niggli ist ganz anders. Einer wie er kann das auch, Provokation, Geräusche, Neues und alles. Aber im Gegensatz zu den Vorgängern muss er nicht mehr das Alte zerstören, um auf eine neue Ebene zu kommen. Dazu kommt heute hinzu, dass Gestaltungsmittel, die damals von der Ästhetik der Avant-Garde angewandt wurden, von der extremen Rechten benützt werden. Ein Trump macht ja nichts Anderes als Schock und Provokation. Köppel. Die Nationalisten, die SVP, sie leben von der Provokation, von Tabu-Bruch. Die Ästhetik hat das schon vor 15 Jahren reflektiert, dass das nicht mehr der Weg ist, das Neue zu verbreiten. Heute ist vielleicht auf der Bühne der gewaltfreie Diskurs, der freundliche Umgang miteinander mehr im Mittelpunkt als eine Provokation.

Wie viele CDs gibst du pro Jahr heraus?
18 waren es letztes Jahr, heuer 19 oder 20.

Sind alle Künstler exklusiv an Intakt gebunden?
Es gibt auch Künstler, mit denen wir eine Abmachung haben, dass wir bestimmte Projekte mit ihnen verfolgen. Künstler sind ja heute sehr produktiv, das müssen sie auch sein. Konzertkünstler brauchen vier, fünf Parallelprojekte zum Überleben. So teilen wir viele Künstler mit anderen Labels und anderen Projekten. Mit der Exklusivität ist es nicht mehr wie früher.

Welche Projekte erfüllen Dich mit besonderem Stolz?
Viele! Es wäre einfacher, über Jahrgänge zu reden. Letztes Jahr war es sicher die deutsche Saxofonistin Angelika Niescier mit ihrer New Yorker Band. Oder Barry Guy mit Blue Shroud, der Versuch, eine politische Reflexion zu machen, eine Antikriegsproduktion eigentlich, aber nicht plakativ, sondern auf höchstem ästhetischen Niveau. Und das Gesamtwerk von Irène Schweizer natürlich. Die acht oder neun Alben, die wir dem London Jazz Composers Orchestra gemacht haben. Und hier, das ist eine CD, auf die wir auch ganz stolz sind. Sie stammt vom Trio Heinz Herbert. Das sind die Jüngsten bei uns, denen ist ein ganz toller Wurf gelungen. Da merkt man, es sind wahnsinnig gute Jazz-Musiker, aber sie haben auch eine Ästhetik von Sound und Elektronik. In Willisau haben sie abgeräumt!

Nochmal zurück zu den vielen Parallelprojekten, die ein Künstler braucht – besteht da nicht die Gefahr, dass durch die pure Menge die Konturen verloren gehen?
Das hat sicher mit der Ästhetik der Zeit zu tun. Im Jazz hat’s früher einen klaren linearen Ablauf gegeben. Coltrane, dann Miles Davis, dann Fusion, dann Free Jazz. Heute herrscht eher eine Parallelität der Diversität. Wir haben in der Schweiz sechs Jazz-Schulen auf Hochschulniveau. Jedes Jahr ergibt das 150 Masters-Studentenabschlüsse, 150 Berufs-Jazz-Musiker. In zehn Jahren 1500. Das heisst, das Niveau ist wahnsinnig gestiegen. Es hat eine wahnsinnige Vielfalt von guten Musikerinnen und Musikern. Dass die produzieren wollen ist klar. Wir haben im Jahr mehr als 1000 Anfragen für Publikationen! Es gibt kaum mehr Verlage mit internationalem Netz, weil der Markt das nicht trägt. Dabei ist interessant, dass wir als Europäer auch noch die besten Amerikaner produzieren. Es gibt in den USA viel zu wenig Möglichkeiten mehr. In den USA ist alles so stark auf den Markt ausgerichtet, wenn es der Markt nicht trägt, macht es niemand.

Wie ist das Verhältnis heute von Verkäufen, CD, Vinyl, Download?
Julian Sartorius hat von seinem Album eine kleine Vinyl-Auflage von sich aus gemacht. Der digitale Verkauf ist massiv am Steigen. Ich würde sagen, in den letzten 3, 4 Jahren ist er von 3% auf 10% gewachsen. Das Problem besteht darin, dass die Verkäufe zu billig weggehen. Downloads sind zu billig. Der Zwischenhandel, das sind ja nur noch Maschinen, bekommt zu viel. Letztlich bleibt zu wenig beim Verlag und beim Künstler. Beim Streaming ist das erst recht so. Das ist legalisierter Diebstahl.

Ist es nicht unabdingbar für die Musikwelt im Allgemeinen, dass ein Weg gefunden wird, Streaming auf eine Art und Weise zu monetarisieren, die für Künstler, Produzenten und Labels fair ist?
Das ist die Hoffnung. Ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht wird es ähnlich laufen wie bei den Printmedien, wo wir eine wahnsinnige Ausdünnung erleben. Wo vieles eingeht und damit enorm viel Wissen verschwindet. Es findet eine Kulturzerstörung statt, die vielleicht in der Zukunft ganz neue Finanzierungsformen erzwingt. Die Gesellschaft muss sich überlegen: Wollen wir überhaupt noch Musikproduktionen? Eine Oper würde auch nicht stattfinden. Wenn sich eine Oper selber bezahlen müsste, gäbe es vielleicht noch eine Oper in Amerika und auch die würde nicht vom Markt, sondern von Sponsoren und Mäzenen finanziert. Das Marktprinzip, das immer proklamiert wird, ist eine ganz grosse Lüge und funktioniert in diesen Sachen auch überhaupt nicht. Es ist auch unsere Aufgabe als Verleger, Künstler, Lehrer, von Schulen und Förderungsinstitutionen, nachzudenken: Was wollen wir an Musikproduktionen? Wie können wir es finanzieren? Wie können wir es uns leisten? Auch Pro Helvetia hat meiner Meinung nach darüber zu wenig nachgedacht. In erster Linie wird der Künstler unterstützt. Das finde ich eigentlich auch richtig, aber es ist das aristokratische Modell. Der Fürst streichelt dem Künstler über den Kopf, sagt, du bist der Grösste, und gibt ihm Geld. Dann kommt der Künstler zu uns und sagt, ich sollte jetzt eine Platte machen. Wunderbar, aber wie bezahlt man das?

Wäre die Verwendung von Crowd-Funding eine Lösung?
Das geht für einzelne Projekte. Wir bieten ein Abonnement an, das ist auch eine Form von Crowd-Funding. Die Kunden zahlen einen bestimmten Betrag und bekommen dafür im Jahr sechs CDs im Jahr. Im Moment haben wir mehrere 100 Abonnenten. Das bildet für uns eine wichtige finanzielle Basis.

Wie hast Du die Programmauswahl fürs Vortex-Festival getätigt?
Wir haben einerseits versucht, schweizerische und englische Künstlerinnen und Künstler in Verbindung zu bringen. Andererseits ist die Dramaturgie daraufhin ausgelegt, dass jüngere Acts an der Seite von bekannteren Künstlern auftreten. So gibt es immer zwei Acts pro Abend. Der Vermittlungsaspekt war uns sehr wichtig. Dass Musiker sich kennenlernen. Dass Julian Sartorius mit Steve Beresford spielt ist wirklich ganz toll. Oder Omri Ziegele mit Louis Moholo – grossartig!

 

Link zum Artikel  280 Scheiben im globalen Takt von Hanspeter Künzler in der Schweizer Musikzeitung 4/2017, S. 23 (PDF)

Das könnte Sie auch interessieren