Ingvar Lidholm

Ingvar Lidholm, einer der grössten schwedischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, starb am 17. Oktober 2017 im Alter von 96 Jahren. Er war nicht nur eine der wichtigen Figuren des schwedischen «Chorwunders», es lassen sich auch Berührungspunkte mit der Schweiz feststellen.

Der Komponist Ingvar Lidholm ist vor allem in Chorkreisen auch hierzulande bekannt. Er gehörte der Montagsgruppe an, die den Weg bereitete für das sogenannten schwedische Chorwunder. Anregungen holte sich die Gruppe auch in Basel.

Ingvar Lidholm, einer der grössten schwedischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, starb am 17. Oktober 2017 im Alter von 96 Jahren. Nach dem Tod von Knut Nystedt (1915-2014) und Einojuhani Rautavaara (1928-2016) geht mit Lidholm ein weiterer, hochbedeutender skandinavischer Komponist des 20. Jahrhunderts.

Lidholm war über 70 Jahre lang eine zentrale Figur im schwedischen Musikleben und schrieb bahnbrechende Werke für Chor, Kammermusik und Orchester. Sein Wirken hat wesentlich zum sogenannten «Schwedischen Chorwunder» beigetragen, der Entstehung und Bewegung von Chören, die sehr schwierige Stücke aufführen können. Zu diesen Stücken gehört auch Laudi, welches Lidholm im Alter von 26 Jahren komponierte, inspiriert von einem Chor, der von seinem Freund Eric Ericson geleitet wurde. «Beinahe unmöglich aufzuführen», urteilten angeblich die Choristen, als sie 1947 die Noten in die Hände bekamen.

Lidholm schrieb A-cappella-Werke, Solowerke für Klarinette, Oboe und Violoncello, aber auch Orchesterwerke wie Kontakion (1978) und Ritornell (1955) und Opern wie Der Holländer, für die er1968 den Preis der Salzburger Oper erhielt, oder Ein Traumspiel (Ett drömspel, 1990). Andere Kompositionen Lidholms sind im Chorwesen inzwischen zu Klassikern geworden, etwa Canto LXXXI (1961), Libera me (1995) und a riveder le stelle (1973).

(Ausführliche Biografie und Verzeichnis der Chorwerke siehe weiter unten.)


Die Montagsgruppe

Einige schwedische Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler taten sich 1944 zusammen und trafen sich bis ca. 1950 regelmässig montags, um über Komposition zu diskutieren. Der informelle Leiter der Gruppe war Karl-Birger Blomdahl (1916-68). In der Wohnung seiner Familie, umsorgt mit Kaffee von seiner Mutter, fanden in der Drottninggatan in Stockholm die Treffen statt.

Da durch den Zweiten Weltkrieg die internationalen Kontakte abgebrochen waren, gab es einen grossen Bedarf, Erfahrungen auszutauschen. Unter anderem diskutierte man Satz- und Formenlehre bei Komponisten wie Hindemith, Bartók, Strawinsky, Schönberg und Berg. Der Kern der Gruppe bestand, neben Blomdahl selbst, Klas-Thure Allgén, Sven-Erik Bäck, Sven-Eric Johansson, Hans Leygraf, Claude Génetay, Eric Ericson und Ingmar Bengtsson und eben auch Ingvar Lidholm.

Im Jahr 1946 reisten mehrere Mitglieder der Gruppe (Sven-Eric Bäck, Eric Ericson und Lars Edlund) nach Basel ans «Lehr- und Forschungsinstitut» für Alte Musik, um bei Ina Lohr zu studieren. Ina Lohr spielte als Assistentin von Paul Sacher beim Aufbau der heute unter dem Namen Schola Cantorum Basiliensis bekannten Institution eine bedeutende Rolle. Ihre ganze Arbeit war getragen von einer tiefen Religiosität. Sie war an der schweizerischen Singbewegung sowie an der Einführung des Probebands des neuen Kirchengesangbuches beteiligt. Gleichzeitig suchte die Bewegung der Alten Musik allmählich grössere Professionalisierung, wollte sich befreien vom Etikett des Dilettantismus, der die Hausmusik substantiell definierte, was unter anderem dazu beitrug, dass Ina Lohrs Name heute kaum mehr bekannt ist.

Als die Montagsgruppe sich dann ab 1947 wieder traf, wurden auch mehrere Teilnehmer neu aufgenommen, darunter Göte Carlid, Magnus Enhörning, Nils L. Wallin und Bo Wallner.

Paradigmenwechsel im Musikleben

Die Ausrichtung der Montagsgruppe war und wurde mit der Zeit immer stärker die radikal modernistische Musik. Das ursprüngliche Ziel war, die eigenen Kompositionen parallel zur Entwicklung der europäischen Kunstmusik zu verbessern. Man wollte aber auch darauf hinwirken, mehr Verständnis für die eigene, oft bespottete Musik zu gewinnen. Man hatte in Schweden gegen das traditionalistische Musik-Establishment zu kämpfen, in dem die Spätromantik und der Neoklassizismus vorherrschende Stilideale waren. Zur Distanzierung gegenüber der Spätromantik gehörte auch das Interesse für Barockmusik und ihrer Aufführungspraxis bei vielen Mitgliedern der Gruppe.

Die Mitglieder der Montagsgruppe beteiligten sich rege an den Debatten über Neue Musik, sie bekamen Schritt für Schritt mehr Aufmerksamkeit und mehr Einfluss. Und so besetzten allmählich (nachdem sich die Gruppe schon aufgelöst hatte) einige ihrer Mitglieder, zuvorderst Blomdahl, Bäck und Lidholm zentrale Positionen innerhalb des schwedischen Musikbetriebs. Die Montagsgruppe ist deshalb von zentraler Bedeutung in der schwedischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts und verantwortlich für den deutlichen ästhetischen und stilistischen Paradigmenwechsel im Musikleben während der 1950er- und 1960er-Jahre. Sowohl Blomdahl als auch Lidholm wurden Professoren für Komposition an der Königlichen Musikhochschule in Stockholm. Besonders die Chormusik hat in Schweden nach dem zweiten Weltkrieg entscheidend zur allgemeinen Entwicklung der dortigen Neuen Musik beigetragen.

Die enorme Entwicklung der zeitgenössischen skandinavischen Chormusik selbst, die auch als «schwedisches Chorwunder» bezeichnet wird, ist vor allem mit der Chorleiterlegende Eric Ericson verbunden. Dieser regte nicht nur Komponisten zum Schreiben derartiger neuer Werke an. Er bildete vor allem auch Chorleiter ausbildete, die keine «Angst» mehr vor neuen Klängen und ungewöhnlichen Partituren hatten. Damit setzte er für folgende Generationen einen Kreislauf in Gang, in dem sich leistungsfähige Chöre, hervorragend ausgebildete Chorleiter und Komponisten befruchten konnten.

Dieser Einfluss wird heutzutage als positiv und negativ bewertet. Andere Komponisten, die die Ideale der Gruppe nicht teilten oder auf traditionellere Weise komponierten, wurden weitgehend ausser Acht gelassen bei den Institutionen wie dem schwedischen Radio, geleitet von Mitgliedern der Montagsgruppe oder deren Freunden und «Alliierten». Dies schilderte unter anderem der Komponist Erland von Koch in seinem Buch Musik och Minnen [Musik und Erinnerungen], Stockholm 1989.

 

Biografie und Verzeichnis der Chorwerke

Quelle: Schwedisches Musikinformationszentrum


Ingvar Lidholm (1921–2017)

Geboren in Jönköping, in der südschwedischen Provinz Småland, am 24. Februar 1921. Als Abiturient in Södertälje bekam er Violinunterricht bei Hermann Gramms und Orchestration bei Natanael Berg. Von 1940 bis 1945 studierte er an der Königlichen Musikhochschule Stockholm bei Axel Runnqvist Violine und bei Tor Mann Dirigieren; von 1943 bis 1945 auch Komposition bei Hilding Rosenberg. Er war Viola-Spieler an der Oper in Stockholm von 1943 bis 1947.

Der Preis der Jenny-Lind-Fellowship ermöglichte ihm, seine Studien in Frankreich, der Schweiz und Italien fortzusetzen. Er war Musikdirektor der Stadt Örebro (1947–1956) und der erste Schwede, der bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt im Jahr 1949 teilnahm. 1956 wurde er Programmdirektor für Kammermusik beim schwedischen Radio. Ab 1965 unterrichtete er Komposition an der Königlichen Musikhochschule Stockholm, um 1975 als Planungsdirektor für Neue Musik zum Radio zurückzukehren. Zudem fungierte er ab 1967 als Herausgeber des Journals Neue Musik. Von 1947 bis 1951 und von 1963 bis 1965 war er Vorstandsmitglied der Schwedischen Komponistengesellschaft. Ausserdem war er Vize-Präsident der Königlichen Musikhochschule Stockholm von 1963 bis 69 und Präsidiumsmitglied des Internationalen Schwedischen Komponistenverbandes.

Er bekam 1958 den Christ-Johnson-Preis, 1965 den Internationalen Kussewitzki-Preis. 1968 wurde er mit dem Preis der Salzburger Oper für seine Komposition Der Holländer ausgezeichnet. Er selbst sagte über sein Komponieren: «Ich versuche mir immer im Bewusstsein zu halten, dass es mein Beruf ist, Noten zum Sprechen zu bringen … Lasst uns versuchen, wieder Musik zu formulieren, die den Hörer stark und unmittelbar anspricht, Musik für Menschen unserer Zeit.»

Ingvar Lidholms frühe Werke enthüllen eine subjektive, skandinavische Romantik (Gullberg-Gesänge 1944), noch bevor lange Elemente wie bei Hindemith oder Bartók ins Spiel kommen (Concerto 1945, Music for strings 1952). Die Chorkomposition Laudi kombiniert frühe Vokalpolyfonie mit moderner Harmonie. Lidholms Tonsprache ist reich und vielseitig, die Zahl seiner Werke bemerkenswert und ihr Stil wandlungsfähig.

Der internationale Durchbruch kam mit dem Orchesterstück Ritornell. Von seinen anderen Stücken für Orchester müssen besonders das Ballett Riter (1959), Mutanza und vor allem Poesis (1964 zum 50-jährigen Jubiläum der Stockholmer Philharmoniker) erwähnt werden. Letzteres ist ein unkonventionelles Stück für ein Jubiläum, mit brutalen, unterschiedlich gefärbten Klangblöcken, dynamischen Kulminationspunkten und absurden Solo-Kadenzen für Klavier und Kontrabass. Greetings from an old world wurde 1976 komponiert für die Clarion Musikgesellschaft New York aus Anlass des zweihundertjährigen Jubiläums der Vereinigten Staaten von Amerika.

«Ich mache Gebrauch von der Tradition – mit klar verständlichen Klangmodellen mit gestischem, virtuosem oder melodischem Charakter.» Eine wichtige Zutat des Stückes ist Heinrich Isaacs Wanderlied Innsbruck, ich muss dich lassen. Das dazu passende Schwesterwerk ist Kontakion (1979), das anlässlich einer Sowjetunion-Tournee entstand und orthodoxe Traditionen klanglich verarbeitet. Wahrscheinlich wurde kein Werk von ihm mehr verbreitet als Stamp Music. Er hat es geschrieben im Zusammenhang mit der Erstellung einer Briefmarke zum zweihundertjährigen Jubiläum der Königlichen Musikhochschule Stockholm.


Liste der Chorwerke

Laudi (1947)
Vier Chöre (1953)
Zwei Gesänge (1945-1955): 1. Saga (Männerchor) 2. Jungfrulin (Frauenchor)
Canto LXXXI (1956)
Motto (1959)
Zwei griechische Epigramme (1959). 1. Kort är rosornas tid (3st. Männerchor), 2. Phrasikleia (Sopran-Solo und Frauenchor)
Drei Strindbergweisen (1959): 1. Välkommen åter snälla sol 2. Sommerafton 3. Ballad
Nausikaa allein (1963): Szene für Solosopran, Chor und Orchester
a riveder le stelle (1971)
Die Perser (1978): Dramatische Szene für Rezitation und grossen Männerchor
Skaldens natt (1958/1981): Für Sopransolo, Chor und Orchester
De profundis (1983)
aus der Oper Ett drömspel (Ein Traumspiel): Vindarnas klagan (1981), Troget och milt (1990)
Inbillningens värld für Männerchor (1990/1996)
Libera me (1993–94)
aus der Oper Ett drömspel (Ein Traumspiel): Vokalsymphonie (1997), Zwei Madrigale (1981) beide mit Orchester
Madonnans vaggvisa für Solostimme und gemischten Chor (1943/2001)
Grekisk gravrelief (2003)

Herbert Blomstedt zu Lidholms Poesis
https://www.youtube.com/watch?v=PXJ9V453Zi8
https://www.youtube.com/watch?v=cPwVrjQgoxM

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