Kurt Widmer – ein universal informierter Sänger

Der international gefeierte Schweizer Bariton und Gesangspädagoge Kurt Widmer ist im Alter von 83 Jahren in Basel gestorben.

Kurt Widmer. Foto: zVg

Seine Meisterkurse waren für Aktive wie Hörende Erlebnisse der besonderen Art. Im Gepäck führte er wie ein Zeichenlehrer Papierrollen und Farbstifte mit. Statt Passagen nachsingen zu lassen, gab er Hinweise auf Haltungen, Verspannungen, Standpunkte, korrigierte Fehlstellungen vom Scheitel bis zur Sohle. Die Balance von Stand- und Spielbein, die Gewichtsverlagerung wurden austariert, der Atem in Fluss gebracht; «cantare sul fiato» – auf den Atem singen – «stare su una barca ancorata» – auf einem verankerten Boot stehen. «Alle Gelenke laufen in kreisförmigen Bahnen» – Vorbild war der Vitruv-Mann von Leonardo da Vinci. Kreisend sollten die Studierenden den Ambitus ihrer Stimme nachzeichnen. Die Wirkung war frappant. Die Sänger brachten ihre Körperhaltung ins Lot, lehnten Wirbelsäule und Brustkorb an: «appoggiarsi alla testa – appoggiare in petto». Mit einem Lächeln der Erlösung war das anvisierte Ziel erreicht.

Das war des Meisters Kunst der Übertragung und der Auflösung von Ängsten und Blockaden. Die Beziehung zwischen Bewegung und Klang hat Widmer 2018 dokumentiert im grossformatigen Buch «Gesang ist innerer Bewegung Klang». Salvador Dalís brennende Giraffe, dieses apokalyptische Monster in Kleinformat, lieferte das surreale Umschlagbild zum kühnen Titel: Und niemand merkt, dass die Giraffe brennt (Cardamina-Verlag).

Von Machaut bis Kurtág

Auf dem Podium war Kurt Widmer ein begnadeter Sänger. 100 Werke hat er im Laufe eines halben Jahrhunderts zur Uraufführung gebracht. Von Guillaume de Machaut bis György Kurtág, der für den Bariton Hölderlin-Gesänge komponiert hatte, reichte das Repertoire, über sieben Jahrhunderte hinweg. Seine Diskografie verrät die stilistische Bandbreite: von J. S. Bachs Johannes-Passion bis Zemlinskys Dehmel-Lieder, dazwischen Charpentiers Magnificat, Grauns Tod Jesu, Schoecks Penthesilea, Schuberts Winterreise, Zelenkas Lamentationes Jeremiae Prophetae.

Ausser der romantischen Oper finden sich schier keine Lücken. Eine füllt nun seine Schwiegertochter Cecilia Bartoli, die zusammen mit Sohn Oliver Widmer die Leitung der Opéra de Monte-Carlo übernommen hat. Und wenn schon von der Familie die Rede ist: Die diamantene Hochzeit konnten Kurt Widmer und seine Gattin Ursula Widmer-Bösch noch feiern. Sie stand ihm lebenslänglich zur Seite, besorgte den Haushalt und fuhr ihn mit dem Auto an Auftritts- und Kursorte. Vier Kinder wurden dem Paar geboren: Eine Tochter ist Ärztin, eine in der Autobranche, die jüngste als Food Scout tätig; der Sohn war am Opernhaus Zürich engagiert.

Ein Allwissender

Widmers Haus im Basler Sankt-Johanns-Quartier war ein Treffpunkt der Gesellschaft und der Musik, wo man den Gesang auf Flügeln, historisch orientiert auf dem Hammerflügel begleiten liess. Mit dem Autor Hansjörg Schneider traf er sich jeweils am Brunnen vor dem Tore oder je nach Witterung im Rosenkranz ums Eck. Beisl-Einkehren wie zu Schuberts Zeiten.

Widmer war ein universal informierter Gelehrter. Er hatte über jedes Bildungsthema, jede Persönlichkeit viel und lange zu erzählen. Den Gesprächsfluss unterbrach er gerne mit dem knappen Hinweis: «Wie du ja weisst!»

Widmer war auch ein äusserst begabter, fantasievoller Kalligraf. Beim Betrachten der handschriftlich kunstvoll geschriebenen und illustrierten Erinnerungen an seine Familie kam man aus dem Staunen nicht hinaus. Jedes Zeichen ein Zoll Schönheit; jeder Buchstabe ein Bild; jedes Wort eine Einheit; jeder Brief eine kostbare Widmung. Kunst-Werke aus dem reichen Fundus der Fantasie und des zeichnerischen Könnens in Farbe und Form. Widmer war ein Barockmensch und ein Surrealist, der aus der Fülle von Vergangenheit und Gegenwart schöpfte. Er besass eine weit ausschweifende Begabung zur Ausdeutung von Worten wie zur Bebilderung von Musik.

Ein Beispiel aus Kurt Widmers Zeichnungen mit Kalligrafie. Bild: zVg

Eine Pilgerreise des Gesangs

Seine Verdienste, Auszeichnungen, seine Bedeutung im Schweizer Musikleben lassen sich nur summarisch aufzählen. Sein Weg ging von der Tonhalle seiner Geburtsstadt Wil im St. Gallischen bis zu den Tonhallen der Welt, auf deren Podien er auftrat: Eine Pilgerreise des Gesangs, auch des heiteren Genusses an kulinarisch reich gedeckten Tafeln. Die Ernte seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Dozent an der Musik-Akademie Basel, dieser «Schola Cantorum Widmeriana», war die Verleihung von über 120 Diplomen an Sängerinnen und Sänger, die Karriere machen sollten. Eine Erweiterung seines Unterweisens waren bis zuletzt die Meisterkurse von Bozen bis Vaduz, von Moskau bis Tokio.

Der Kreis dieses wahrhaft prallen Lebens für den Kunstgesang hat sich geschlossen. Zur Trauerfeier in der Basler Leonhardskirche meldeten sich ein halbes Hundert ehemaliger Studierender, um dem Verstorbenen ihre musikalische Referenz zu erweisen. Ein Lebenswerk ist vollbracht.

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