Alte oder neue Musik: Zum Unterricht in historischer Aufführungspraxis

Den Ausführungen von Elizabeth Dobbin und Thomas Drescher zur Lage der historischen Aufführungs- und Ausbildungspraxis (SMZ 1_2/24) sollen hier ergänzend noch ein paar Gedanken angefügt werden, die vor allem die Zukunft betreffen.

Detail aus dem Basler Musikmuseum. Foto: SMZ

Der Ausbildungsbereich «Alte Musik» ist in der Regel beschränkt auf die Zeit vom Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert, das heisst, auf den Bereich der «alten Instrumente». Mit der Entwicklung der modernen Instrumente im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ergab sich ein passender Grund, den Bereich nach vorne einzugrenzen. Nun sind aber Brahms, Mahler, Strawinsky und Boulez ebenfalls bereits alte Musik. Auch die Musik des späten 19. und des 20. Jahrhunderts müsste also im Bewusstsein ihres historischen Kontexts erforscht, gelehrt und aufgeführt werden. Für das 20. Jahrhundert ist dieser Anspruch aus gutem Grunde seit Anbeginn eingelöst. Es fehlt also nur noch das späte 19. Der Geltungsbereich der historisch informierten Aufführungspraxis und der dazu passenden historisch informierten Ausbildung ist, so meine nicht nur ich, notwendigerweise auszudehnen auf den Zeitbereich vom Frühmittelalter bis gestern. Die Verbindung von Forschung, Lehre und Aufführung, die Paul Sacher einst als Grundkonzept für die Basler Schola postulierte, erscheint für jede Musikausbildung sinnvoll. Auch im Bereich der mittlerweile längst akademisierten Ausbildung im Jazz. Wenn eine Bigband ein Stück von John Coltrane spielt, dann müssen die Soli im Coltrane-Stil vorgetragen werden. Die Solisten müssen zu solch historischer Aufführungspraxis (technisch und ästhetisch) in der Lage sein, das heisst ausgebildet werden.

Was für Wissen braucht es zum Können

Die Lehrenden müssen sehr viel wissen. Ihren Lernenden aber müssen sie vor allem Handlungsfähigkeit beibringen. Hier liegt meines Erachtens ein grosses Missverständnis beim Anspruch der historischen Informiertheit in der Ausbildung. Sie ist selbstverständlich (auch!) eine Disziplin der wissenschaftlich-historischen Forschung und abhängig davon. Die Resultate solcher Forschung aber sind für die Ausbildung angehender Musiker propädeutisch. Sie sollen nicht einfach in Worten weitergegeben und gelehrt werden, ihre Ergebnisse müssen bei den Lernenden vor allem zur praktischen Anwendung gebracht und so fruchtbar gemacht werden. Hat ein Lernender auf diese Weise «musikalische Handlungskompetenz» erworben, wird er auch die Formulierungen der Komponisten auf ganz andere, nämlich direkte Weise erkennen, einschätzen- und bewerten können. Mit anderen Worten: Für angehende Musiker ist die Ausbildung zum Denken in Tönen wichtiger als diejenige zum Reden oder Vielwissen über Musik. Damit soll die Bedeutung und der Wert des Redens und Wissens keineswegs kleingeredet werden. Es geht nur um die Prioritäten. Gefördert werden soll im Unterricht mit Vorrang das implizite Wissen und erst in zweiter Linie das explizite solche.

Abschied vom vorgefertigten theoretischen Instrumentarium

Kollegen aus dem angrenzenden Ausland berichten mir, wie dieser Denkansatz an ihren Hochschulen diskutiert und wie sehr dessen Realisierung manchenorts als Wunschziel angestrebt wird. Dies bedingt nicht nur die Formulierung neuer Curricula und die sukzessive Anstellung entsprechend ausgebildeten Lehrpersonals, es bedingt auch den Abschied von vielen immer noch ziemlich heiligen Kühen. Dazu gehört etwa das theoretische System der Harmonielehre, mit dem manchenorts die Musik zwischen Monteverdi («da wird’s ja bereits so’n bisschen tonal») und Mahler analysiert wird. Dazu gehört die systematische Formenlehre, mit deren Vorgaben man nach wie vor Kunstwerke vermisst. Dazu gehört wohl schlicht das meiste vorgefertigte theoretische Instrumentarium. Es führt notwendigerweise zur Einengung und nicht selten auch zur bleibenden Deformation des Blick- bzw. Hörwinkels.

Aufeinander bezogene Fächer vermitteln ein Gesamtbild

Die Unterrichtscurricula an Instituten für historische Aufführungspraxis unterscheiden sich nicht nur im Bereich der Hauptfächer (alte Instrumente, Spieltechniken, Ästhetik), sondern auch und ganz besonders im Pflichtfachbereich von denjenigen landesüblicher Musikhochschulen. Dargestellt am Beispiel der Basler Schola: Hier folgen die Kernfächer Satzlehre, Gehörbildung, Notationskunde und Musikgeschichte einem einheitlich historisch differenzierten Ausbildungsplan. Dank dem chronologischen Vorgehen in allen diesen Fächern entstehen viele innere Beziehungen, wird derselbe Gegenstand von unterschiedlichen Standpunkten beleuchtet und betrachtet. Diese Fächer werden ergänzt durch die ebenfalls in chronologischem Vorgehen angebotenen Fächer Quellen- und Instrumentenkunde, den Pflichtfächern Gregorianik (Modalität in der Einstimmigkeit), Historischer Tanz, Improvisation und Verzierungslehre sowie, je nach Arbeitsbereich, auch Generalbassspiel. Für alle Studierenden kommt dazu noch das Pflichtfach Gesang (Stimmbildung, historische Singpraxis). Der Kanon der aufeinander bezogenen Fächer vermittelt den Studierenden ein Gesamtbild, in das sie ihre Arbeit im Hauptfach stellen können. Sie verfügen über einen detailreichen Hintergrund und ein auf allen Ebenen vertraut gewordenes Umfeld. Sie erhalten damit die nötigen Grundlagen für ihre ästhetischen Entscheidungen als Interpreten.

Aufgeteilt ist der Gesamtbereich in die stilspezifischen Arbeitsbereiche bzw. Studiengänge: 1) Mittelalter/Renaissance, 2) Renaissance/Barock/Klassik und schliesslich 3) Barock/Klassik/Frühromantik. (Dieses Ausbildungskonzept geht zurück auf einen Entwurf von Wulf Arlt im Jahre 1970. Es wurde danach erweitert und ergänzt durch Peter Reidemeister und später durch dessen Nachfolgerinnen und Nachfolger.)

Die genannten Arbeitsbereiche liessen sich wie folgt weiterdenken: 4) Klassik/Frühromantik/Hoch- und Spätromantik, 5) Romantik/Neue Musik in der ersten Hälfte des 20. Jh. /Musik nach dem zweiten Weltkrieg. Die Bereiche 1) und 2) blieben wohl den darauf spezialisierten Instituten vorbehalten, an den meisten Musikhochschulen bestünde das Standard-Angebot wie bisher aus den Bereichen 3), 4) und 5). Ausbildungsprogramme könnten als Module frei zusammengestellt werden.

 

Markus Jans unterrichtete von 1972 bis 2010 an der Schola Cantorum Basiliens historische Satzlehre.

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