Die beste Musikerin der Stadt

Caroline Boissier-Butini hatte es zu Beginn des 19. Jahrhunderts im calvinistischen Genf trotz grossbürgerlicher Herkunft nicht leicht.

Caroline Butini 21-jährig, gemalt von Firmin Massot. Ausschnitt. Privatbesitz. Foto: Monique Bernaz

Die Übersetzerin, Genderforscherin und Musikpublizistin Irène Minder-Jeanneret schuf mit ihrer Doktorarbeit eine umfassende Darstellung des Musiklebens in Genf und, im Zusammenhang damit, im Europa des beginnenden 19. Jahrhunderts, ausgehend vom Leben der fast vergessenen Pianistin und Komponistin Caroline Boissier-Butini.

Die farbig illustrierte, übersichtlich gegliederte, mit vielen Tabellen und einem umfangreichen Anhang versehene Arbeit reflektiert die besondere Stellung dieser in einer komplizierten gesellschaftlichen Konstellation aufgewachsenen Tochter. Sie wurde von ihrem Grossvater und Vater in der Musik gefördert, auch in den damals aufkommenden Wissenschaften instruiert (sie hätte gerne Medizin studiert).

Eigentlich hatte Irène Minder geplant, mit dem gesammelten Material einen Roman über Caroline Boissier-Butini zu schreiben. Dieser entsteht nun im Kopf beim Lesen der mit ausgedehnten Tagebucheinträgen, Reiseberichten, Briefen und Zeitzeugenzitaten gespickten Dissertation! Die Quellen sind aufschlussreich kommentiert und miteinander so verbunden, dass sie ein lebendiges Bild der Zeit ergeben (alle französischen übrigens exzellent auf Deutsch übersetzt).

Die calvinistisch engen, aber dank Aufklärungsideen und der französischen Revolution geweiteten, dann wieder durch die napoleonische Besatzung bedrängten Verhältnisse in der Genfer Republik ergaben für Boissier-Butini sehr komplexe Lebensumstände. Ein Ergebnis davon kann man ihrem Werkverzeichnis ablesen: Zwar sind Orgel-, Klavier- und Kammermusikwerke als Manuskripte erhalten, aber nur von einem ihrer sieben (!) Klavierkonzerte ist die Solostimme vorhanden. Sie durfte zuhause und in standesgemässen anderen Salons vor Gästen spielen, es geziemte sich aber nicht, in öffentlichen Konzerten, und schon gar nicht, für ein Salär aufzutreten. Den Töchtern war es nicht erlaubt, mit gleichaltrigen Demoiselles zusammenzutreffen, sie sollten so lange wie möglich in der alleinigen Gesellschaft der Mutter bleiben. Gemäss Rousseaus konservativer Aussagen in seiner Lettre à d’Allembert und im L’Émile müsse die naturrechtliche Perspektive der Frauen zugunsten der gesellschaftlichen Notwendigkeit zurücktreten: Die Frau sei da zum Wohlsein des Ehemannes und zur Erziehung der Kinder! Erst Albertine Necker-de Saussure kämpfte ab 1838 für eine Kursänderung.

Glücklicherweise wurde Caroline mit dem musikliebenden, selber auf eigenen zwei Stradivari spielenden Agronomen Auguste Boissier verheiratet, der viel Verständnis für die Aktivitäten seiner Frau hatte, mit ihr auch duettierte oder in Kammermusikgruppen auftrat. Dank ihrer privilegierten Stellung war sie vernetzt mit vielen berühmten Durchreisenden und das Genfer Exil nutzenden Persönlichkeiten (u. a Isabelle de Charrière, Germaine de Staël-Necker). Ihr Talent befähigte sie, diese Anregungen mit spärlichem Unterricht und vor allem autodidaktisch zur Meisterschaft in Klavierspiel und Komposition zu entwickeln. Aufwändige Reisen nach Paris und London zum Kauf von Flügeln, zum vergeblichen Versuch, ihre Kompositionen zu veröffentlichen, und zum Erkunden der grossstädtischen Kultur machten sie bekannt mit berühmten Pianisten, denen sie auch selber – Anerkennung erntend – vorspielte. Liszts, Kramers und Kalkbrenners empfindsames Spiel bewegten sie zur Einsicht, Musik zu schaffen, die «berührt, statt zu blenden». Einen Winter lang liess sie ihre Tochter Valérie in Paris von Liszt unterrichten. Ihr Bericht Liszt pédagogue erschien erst 1923 unter dem Namen «Mme Auguste Boissier», 1930 auf Deutsch missverständlich reduziert auf «Auguste Boissier»! Da die Familie im Sommer auf ihrem Landgut bei Yverdon lebte, hatte sie die Freiheit, dort mit einfachen Leuten in Kontakt zu kommen, was sie dazu anregte, sich auch mit Volksmusik zu befassen. Einmal komponierte sie einem durchziehenden Dorfgeiger gratis im Versteckten schnell ein paar Tänze. Ihr einziges aufführbares Concerto No. 6 «La Suisse» enthält im Mittelsatz alle drei Elemente des Ranz des vaches.

Viele Hindernisse erschwerten die Entfaltung ihres Könnens. Schon die calvinistische Tradition Genfs, die Musik fast nur in Form von Psalmen zuliess, machte die öffentliche Aufführung weltlicher Musik schwierig. Obschon sie Orgel spielen konnte und Orgelstücke komponierte, durfte sie kaum in Gottesdiensten spielen. Die nach dem Eintritt Genfs ins eidgenössische Bündnis entstandene Société de musique de Genève (1823) nahm Frauen nur als nicht stimmberechtigte membres actives honoraires mit eingeschränkten Auftrittsmöglichkeiten auf. Immerhin halfen die auf die ganze Schweiz ausgedehnten Musikfeste, ein mit der Eidgenossenschaft vernetztes Musikleben in Genf anzubahnen. Caroline Boissier-Butini spielte trotz allem eine auch in anderen Schweizer Städten bekannte, herausragende Rolle als Klaviervirtuosin, Komponistin und Musikförderin, obschon sie überall nur privat spielte.

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Irène Minder-Jeanneret, «Die beste Musikerin der Stadt» Caroline Boissier-Butini (1786-1836) und das Genfer Musikleben zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Dissertation Universität Oldenburg; gedruckte Ausgabe mit Zusatzmaterialien auf CD-Rom, 528 S., € 44.90; Ausgabe auf CD-Rom, € 24.90; EpOs Electronic Publishing, Osnabrück 2013, ISBN 978-3-940255-36-5

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