Handwerk und Geheimnis des Komponierens

Bruno Monsaingeons Gespräche mit Nadia Boulanger sind nun auch auf Deutsch zu lesen.

Nadia Boulanger 1925 an der Ecole normale de musique de Paris, wo sie unterrichtete. Foto: Edmond Joaillier (1886–1939), Paris/Bibliothèque nationale de France

Nadia Boulanger, die Grande Dame, war Lehrerin und richtungsweisende Gesprächspartnerin von Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin, Igor Stravinsky, auch von vielen Komponisten, die nicht so stark im imaginären Museum der Musikgeschichte verankert sind. Boulanger, das zeigt das vorliegende Buch eindrücklich, kommt zwar von der romantischen Inspirationsästhetik, ist aber bis ins hohe Alter offen geblieben. Dem Neuen stand sie nie ablehnend oder gar skeptisch gegenüber, wobei ihre Schwerpunkte in französischer Ästhetik und Geschichte lagen.

Bruno Monsaingeon hat sein Buch Mademoiselle. Entretiens avec Nadia Boulanger bereits 1981 veröffentlicht, nun liegt es, hervorragend lektoriert und übersetzt von Joachim Kalka, auf Deutsch vor. Im Vorwort bemerkt Monsaingeon, dass es Boulanger nicht mochte, «irgendwelche vertraulichen Mitteilungen zu machen». So ist vermutlich der etwas kleinteilige Stil des Buches zu erklären, das aus Gesprächen aus den letzten Lebensjahren entstanden ist. Boulanger ist weder Musikphilosophin noch Wissenschaftlerin oder Theoretikerin. Ihre Gedanken sind sprunghaft, aber deshalb nicht unergiebig.

Über ihre Schwester Lili äussert sich Nadia noch recht ausführlich, über ihre Begabung, auch über Lilis genialischen Funken, der bei ihr selbst nie übersprang. Oft kreist das Buch – siehe «romantische Inspirationsästhetik» – um Themen wie Begabung, Schöpfertum, Schaffensdrang. Auf Seite 97 konstatiert Boulanger:

«In der Frage nach Genie oder Meisterwerk muss ich meine Verlegenheit eingestehen. Tatsächlich weiss ich nichts … Ich weiss es und ich weiss es nicht, weil ich eine Gewissheit habe, die nicht auf Vernunft beruht. Es beginnt natürlich mit einer Gewissheit, die teilweise vernünftig ist, insofern ich konstatiere, dass eine Musik gut geschrieben ist, gut orchestriert, gut konstruiert. Aber in dem Augenblick, wo es noch um etwas anderes geht, tritt man in ein Geheimnis ein. Da ich ein gläubiger Mensch bin, erscheint mir alles ein Geheimnis.»

Man kann es Respekt nennen, Respekt vor der Kunst, Respekt vor der Musik. Je mehr man sich jedoch in Boulangers Gedanken vertieft, beschleicht einen auch das Gefühl eines gepflegten Mystizismus, der in merkwürdiger Schräglage steht zu recht konkreten Vorstellungen von musikalischem Handwerk sowie tiefen und handfesten Einblicken in bedeutende Werke der Musikgeschichte. Just dieser Eindruck erklärt vermutlich Boulangers pädagogischen Erfolg: Sie vermittelte, kenntnisreich und streng zugleich, Grundlagen. Was ihre Schüler und Schülerinnen daraus machten, was in unbewussten Vorgängen geschah – davor hatte sie Respekt und schwieg. Dies ist wohl auch das Resümee dieses facettenreichen Buches: Es gibt viele Impulse. Aber fürs Weiterdenken ist der Leser zuständig.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen – Gespräche mit Nadia Boulanger, 176 S., € 28.00, Berenberg, Berlin 2023, ISBN 978-3-949203-50-3

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