Berner Revolutionär und Romantiker

In einer umfangreichen Monografie zeichnet Jannis Mallouchos den Lebensweg des Musikers und Bakunin-Vertrauten Adolf Reichel nach.

Adolf Reichel fotografiert von Moritz Vollenweider. Bild: zVg

«Adolf Reichel ist ein Unbekannter», so beginnt Jannis Mallouchos‘ Monografie über den Berner Chefdirigenten, Komponisten, Pianisten und Pädagogen deutscher Herkunft. 652 Seiten später ist der Unbekannte so erschöpfend erforscht wie wohl nur wenige seinesgleichen, in einem wissenschaftlichen Buch, das sich fesselnd wie ein Roman liest. In der Literatur über den Frühsozialismus und den Vormärz ist Adolf Reichel (1816–1896) längst ein alter Bekannter. Doch vergeblich hat vor Jahren eine Handvoll Musiker (Suzanne Reichel, Adrian Aeschbacher, Stefan Blunier) versucht, auf Reichel auch als Komponisten aufmerksam zu machen.

Zur Wiederentdeckung des Schweizer Musikers bedurfte es dann eines griechischen Komponisten und Musikwissenschaftlers, eines deutschen Professors, eines niederländischen Archivs, eines österreichischen Verlags und eines Zufalls: Im Internet stiess Mallouchos auf Reichels Ururenkelin, die soeben die jahrzehntelang verschollenen Notenhandschriften ihres Ahnen aufgespürt hatte.

Hervorragend vernetzte Persönlichkeit

Akribisch zeichnet Mallouchos Reichels abenteuerlichen Weg vom braven preussischen Untertanen zum polizeibekannten Unterstützer von Oppositionellen und Revolutionären (die sich heute wohl das Etikett «Terroristen» gefallen lassen müssten) und schliesslich zum abgeklärten Republikaner und Schweizer mit Emmentaler Bürgerrecht nach, Stammvater einer Dynastie übrigens, die heute lückenlos sechs Musikergenerationen zählt.

Reichels Begegnungen mit zahllosen bedeutenden Persönlichkeiten von Friedrich Schleiermacher über Alexander Herzen (dessen Mitarbeiterin Marija Ern er heiratete), Georg Herwegh, Frédéric Chopin, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx und Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, seinen Stationen im «revolutionären und romantischen» (John Eliot Gardiner) Europa und seiner langjährigen symbiotischen Freundschaft mit dem Anarchisten Michail Bakunin geht Mallouchos bis in die feinsten Verästelungen und Querbeziehungen nach. Reichels Lebenserinnerungen, seine Theoriewerke, seine Briefe und seine Kompositionen – schöne und durchaus anrührende Musik, konservativ, aber sehr versiert im Idiom der klassizistischen Romantik zwischen Beethoven und Schumann geschrieben – stellt er scharfsinnig und kenntnisreich in die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Epoche.

Das Buch beschliessen Werkanalysen, eine Bibliografie und ein Verzeichnis von Reichels 279 Werken, die wir hoffentlich bald veröffentlicht sehen und wieder aufgeführt hören werden.

Jannis Mallouchos: Adolf Reichel (1816–1896), Politische, kulturhistorische, musiktheoretische und kompositorische Aspekte eines Musikerlebens, 652 S., € 80.00,  Hollitzer, Wien 2023, ISBN 978-3-99094-084-6

 

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