Mit intuitiver Musik der Welt zugewandt
Die Dokumentation über das Ensemble für intuitive Musik Weimar zeigt ein Stück Geschichte der zeitgenössischen Musik in der DDR und der Beziehung zu Karlheinz Stockhausen. Nicht unwesentlich ist dabei der Internationale Kompositionswettbewerb des Künstlerhauses Boswil.

Geschichten, die das Leben schreibt: Dank eines Preises beim Internationalen Kompositionswettbewerb in Boswil kann Michael von Hintzenstern 1976 seine erste Westreise aus der DDR antreten. Er nutzt wohlgemerkt nicht nur den mit dem Preis verbundenen dreimonatigen Arbeits- und Studienaufenthalt in der ländlichen Schweiz, sondern ändert – natürlich unerlaubt vom DDR-Regime – seine Reiseroute: Auch nach Köln macht er sich auf, um den verehrten «Meister» Karlheinz Stockhausen zu besuchen. Stockhausens Ansatz einer «intuitiven Musik» wird sowohl Hintzenstern wie auch sein Ensemble für intuitive Musik Weimar (EFIM) prägen – letztlich auch das reich bebilderte und kurzweilige Buch Klänge des Augenblicks, das unter anderem einige handschriftliche Zeugnisse der Korrespondenz mit Stockhausen wiedergibt.
Im Zentrum steht die Geschichte des 1980 gegründeten Ensembles mit dem Stamm von vier ebenso umtriebigen wie experimentell gestimmten Musikern: Michael von Hintzenstern spielt Orgel und allerhand Synthesizer, Hans Tutschku ist der Spezialist für Elektroakustisches und Elektronisches, der «Jazzer» Daniel Hoffmann spielt Horn und Trompete, Matthias von Hintzenstern agiert in der Regel am Cello, tritt aber auch mit Klanginstallationen in Erscheinung.
Zu Beginn stehen stockhausensche Werke im Mittelpunkt, etwa die 15 Textkompositionen für intuitive Musik in variabler Besetzung Aus den sieben Tagen (1968) oder der bekannte Tierkreis (1974/75). Zunehmend, auch bedingt durch den Mauerfall im Jahr 1989, weiten sich die Programme. Tutschku bringt seine Erfahrungen mit französischer elektroakustischer Musik verstärkt ein, das EFIM sucht sich Orte fernab von Konzerträumen, spielt in Parks, botanischen Gärten oder in Kali-Bergwerken 670 Meter unter der Erde. Das EFIM kann nun auch Konzert- und Workshop-Einladungen in 30 Länder auf 4 Kontinenten wahrnehmen.
Wer sich für experimentelle Musik begeistert, wird auch von dieser Dokumentation begeistert sein. Lesenswert ist es aber auch für diejenigen, die sich für die Kulturgeschichte der DDR interessieren. Gerade in der Musik waren Freiräume durchaus vorhanden – Freiräume, die das EFIM auf erstaunlich offene, intelligente wie sympathisch der Welt zugewandte Art nutzte.
Michael von Hintzenstern: Klänge des Augenblicks – 44 Jahre Ensemble für intuitive Musik Weimar 1980–2024, 256 S., über 300 Abb., € 44.00, Weimar 2024, ISBN 978-3-00-078834-5,
hintzenstern.eu