Kürzlich aufgefunden: Chopin-Walzer

Das kurze Stück überrascht mit Dissonanzen und erinnert an eine Mazurka.

Das einzige bekannte Foto von Chopin, um 1848 von Louis-Auguste Bisson. wikimedia commons

Die Nachricht ging durch die Weltpresse. Bei der Sichtung eines Nachlasses machte die New Yorker Morgan Library & Museum im Frühjahr 2024 einen aussergewöhnlichen Fund: einen bisher unbekannten Walzer in a-Moll, geschrieben von Chopins eigener Hand. Und «höchstwahrscheinlich von ihm selbst komponiert».

Der Henle-Verlag zögerte nicht lange und hat das kurze Stück nun samt einem Faksimile in Originalgrösse veröffentlicht. Erstaunt stellt man fest: Das Autograf ist offensichtlich nur so gross wie eine Postkarte! Ein umfangreiches Nachwort von Herausgeber Jeffrey Kallberg geht der Herkunft dieses erstaunlichen Fundes nach und kommt zur Erkenntnis, dass dieses Manuskript ursprünglich als Geschenk gedacht war. Chopin erfreute seine Bekannten ja gelegentlich mit solchen Gaben.

Beim Durchspielen fallen einige Merkwürdigkeiten auf. Die ersten Takte klingen alles andere als einladend. Herbe Dissonanzen führen bereits im 7. Takt zu einem fast brutalen Ausbruch im dreifachen Forte (selten bei Chopin). Danach beginnt der eigentliche Walzer, der jedoch eher die Züge einer Mazurka trägt. Gleich dreimal schreibt hier der Komponist seltsamerweise eine Sechzehntel-Triole, die eigentlich in Achteln notiert sein müsste. Ein Versehen? Und immer wieder hallen die Dissonanzen des Anfangs nach. So auch am Ende des Walzers in Takt 24. Bei einem allfälligen Dacapo könnte man ihn daher auch zu einem endlosen Reigen erweitern, dermassen sind Anfang und Ende miteinander verknüpft.

Falls das kurze Stück tatsächlich als Widmung gedacht war, hatte dieses Geschenk also durchaus eine bittersüsse Note. Vielleicht ist gerade dies ein Indiz für die Autorschaft Chopins?

Noch ein Wort zu den Fingersätzen, die Lang Lang zu verantworten hat. Es zeugt nicht gerade von grosser Sorgfalt, wenn absolut identische Passagen (wie die Takte 2 und 4) mit verschiedenen Zahlen versehen sind. Auch andere Angaben (etwa für die Kadenz am Schluss) nimmt man erstaunt zur Kenntnis. Da hätte der Verlag dem berühmten Virtuosen doch etwas besser auf die Finger schauen sollen …

Frédéric Chopin: Walzer a-Moll mit Faksimile, hg. von Jeffrey Kallberg, HN 1303, € 10.00, G. Henle, München

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