Archiv des Roothuus Gonten digital

Das Roothuus Gonten beherbergt Tausende Instrumental- und Jodelstücke, eine der bedeutendsten Sammlungen des volksmusikalischen Kulturerbes in der Schweiz. Dieser Schatz ist zunehmend digital zugänglich und lädt zu vielschichtigen Forschungsreisen ein.

Notenbüchlein des Notisten Josef Peterer. Foto: Carmen Wüest

Vor kurzem ist das Roothuus Gonten, das Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, reich beschenkt worden: Mit der Notensammlung des pensionierten Lehrers Erwin Sager aus Bühler gingen über 8000 Instrumental- und Jodelstücke ins Zentrum über. Mehr als 5300 davon wurden bereits erfasst. Für interessierte Volksmusikkreise sowie die breite Bevölkerung sind sie auf volksmusik.ch zugänglich. Diese Datenbank betreibt das Roothuus gemeinsam mit dem Altdorfer Haus der Volksmusik. Der Server des Roothuus Gonten beheimatet zusätzlich weitere 15 500 ergänzende Files. Konkret bedeutet dies, dass für ein einziges, auf volksmusik.ch gefundenes Werk im Gontner Archiv bis zu 30 Varianten zusätzlich entdeckt werden können!

Die ausführliche Medienmitteilung des Roothuus Gonten vom 8. März unterstreicht die Relevanz dieser Sammlung für die Schweiz und erläutert die Funktionsweise des digitalen Archivs.

Das 1763/65 erbaute Roothuus Gonten (Rotes Haus) wurde 2007 renoviert und die wiederentdeckte barocke Malerei restauriert. Es erstrahlt heute im alten Glanz und bietet zeitgemässe Archiv- und Arbeitsräume sowie stimmungsvolle Räumlichkeiten für Anlässe. Foto: Roothuus Gonten

Ausserordentliche Dichte

Im Roothuus Gonten stehen historische Sammlungen von Josef Peterer «Gehrseff», Carl Emil Fürstenauer, Heinrich Brenner oder Johann Manser und anderen neben Konvoluten von zeitgenössischen Notisten. Vergangenheit und Gegenwart treten in einen kreativen Dialog; ständig kommen neue Notate hinzu und werden wiederum kontextualisiert. In der Sammlung Sager taucht ein Teil der historischen Quellen ebenfalls wieder auf. Zwischen Sammeln, Erforschen und Katalogisieren entsteht so ein dichtes Netzwerk, ein Archiv des Klangs. Damit gehört diese Sammlung nicht nur zu den reichsten Depots an volksmusikalischem Kulturerbe rund um den Alpstein, sondern gilt schweizweit als Referenzarchiv für die Musik einer mehr oder weniger klar umgrenzten Region.

Erwin Sager

Der Volksmusikant Erwin Sager ist als leidenschaftlicher Sammler ausgestattet mit jener Appenzeller Mischung zwischen Passion, Inspiration und Praxis. 1946 geboren, führte ihn die Beschäftigung mit Appenzellermusik an der Geige, Bratsche, am Cello oder Bass konzertierend um die halbe Welt. Daneben komponierte und dokumentierte er fleissig und baute über Jahrzehnte einen grossen Fundus an Originalen, Varianten und Neufassungen von Appenzeller und Toggenburger Volksmusik auf. Davon darf nun die Öffentlichkeit weit über die regionalen Grenzen hinaus profitieren.

Günstige Quellenlage

Die Notensammlung des Roothuus zeichnet sich aber nicht nur durch eine beeindruckende Quantität von Notentexten aus. Aufgrund der professionellen Sichtung und Katalogisierung des Materials durch die Mitarbeitenden im Zentrum selbst bietet sie vielmehr auch eine neue Forschungsperspektive an. Im Gegensatz zu anderen Regionen mit vor allem mündlicher Überlieferung waren die Appenzeller immer sehr dokumentierfreudig und schrieben ihre Melodien nieder. «Mit dem neuen System können wir einerseits die älteste erfasste Quelle eruieren, wir können sinnstiftend vernetzen und die Sammlung digital oder analog ergänzen. Dies alles auch dank der Notenmaterialien, die physisch im Roothuus eingesehen werden können», meint die Geschäftsführerin Barbara Betschart, selbst professionelle Violinistin mit langjähriger Erfahrung im Schnittfeld zwischen Praxis und Forschung.

Das Spiel mit Identitäten

Über das Zauberwort *NSR* (Notensammlung Roothuus) betreten Interessierte in der Volltextsuche auf volksmusik.ch eine Art vierdimensionalen Raum der Erinnerung. Der Zugang zu den digitalen Daten ist bewusst benutzerfreundlich gestaltet (siehe Kurzanleitung am Ende dieses Textes). Hin und wieder verlangt die Erkundung der Notensammlung aber auch eine eigene Form der investigativen Kunstfertigkeit. Sie ist dem fantasievollen Koordinieren von Bewegungen und dem Hinhorchen beim Musizieren ganz ähnlich: Oftmals sind Kombinieren, künstlerische Verknüpfungen und historische Referenzen wichtig für die Benutzung der Datenbank.

«Nicht alle Kompositionen sind in ihrer Identität eindeutig einzuordnen. Manchmal bildeten die ursprünglichen Melodien quasi nur den Rahmen für zahlreiche Varianten, manchmal wurden sie erweitert, mit einer zweiten Stimme ergänzt oder sie verschwanden scheinbar hinter einer neueren, kräftigeren Version», erläutert Betschart. Dieser Vielfalt an Bezügen und Einflüssen in der Entwicklung eines Werks trägt die Sammlung mit unzähligen Angaben Rechnung. Dazu gehören etwa Notenblätter in PDF/XML-Formaten oder Audio-Dateien und Informationen zu spezifischen Aufführungsdaten und – orten. Nebst den Zuordnungen zu den verschiedenen Tanzformen (zum Beispiel «1.» für Marsch, «2.» für Mazurka oder «3.» für Polka usw.), die als erste Ziffer im NSR-Katalog auftauchen, findet man zahlreiche Zusatzinformationen zur Herkunft, zum Notisten mitsamt dessen Spitznamen, gelegentlich zum Nachlass und – besonders spannend – zum Melodiecode, der im Umkehrfall eine Komposition finden und zuordnen lässt.

Abfrage mit dem Zauberwort *NSR*. Screenshot: SMZ

Klingende Codes

*durrdurruuuuddddududur* – was wie eine archaische Geheimsprache anmutet, ist ein Entschlüsselungscode mit einem simplen Melodierezept nach der internationalen Parsons-Methode: «u» bedeutet ein aufsteigendes Intervall, «d» ein absteigendes, ein «r» symbolisiert die Repetition derselben Note. Dank der Buchstabenfolge kann die ungefähre musikalische Linie nachvollzogen werden. Im oben erwähnten Beispiel handelt es sich – dies ergibt die Eingabe des Codes in der Suchfunktion – um das Notenblatt NSR.30069, die Polka Im Rössli, z’Hondwil, komponiert sehr wahrscheinlich von Jakob Anton Knill, Spitzname «Fleck» (1821–1892), der aber selber keine Musikstücke notierte. Die Niederschrift stammt vermutlich von Josef Anton Inauen «Badistesebedoni» (1821–1994), einem Musikkollegen von Knill im Streichquartett Appenzell. Auch zur Entstehung des Titels erfährt man Interessantes: Er kam erst 1929 dazu, als das Stück von der Urnäscher Streichmusik auf Schellackplatte aufgenommen wurde.

 

Beispiel: NSR. 30069

Die Entdeckungstour geht weiter: Für den dritten Teil von Im Rössli, z’Hondwil entdeckt man in der Sammlung des Roothuus Gonten mehrere Varianten aus über 250 Jahren. Drei davon geben Einblick in die Variabilität, in Fragen des Stils und der historischen Melodiegestaltung. Bei der Version von «Badistesebedoni» handelt es sich dabei vermutlich um die älteste Quelle. Alle drei Varianten werden immer noch gespielt.

Josef Anton Inauen «Badistesebedoni», 1821–1894

 

 

Dr. Heinrich Brenner, 1898–1961

 

 

Carl Emil Fürstenauer, 1891–1975

 

Zukunftsmusik

Aktuell gibt es mehrere Herausforderungen: Einerseits sind Katalogisierungs-Lösungen für die zahlreichen Naturjodel der Sager-Sammlung gefragt, die sich aufgrund ihrer Kleinteiligkeit als besonders anspruchsvoll in der Erfassung erwiesen haben. Andererseits arbeitet das Zentrum als Non Profit-Organisation folgender Stifter: Kanton Appenzell Innerrhoden, Kanton Appenzell Ausserrhoden, Kanton St.Gallen, Bezirk Gonten sowie Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft. Zudem fördern diverse private Unterstützer das Roothuus. Steigende Usergebühren, der teure Speicherplatz, zusätzliche Arbeitskontingente und der hohe Qualitätsanspruch u.a. im Forschungskontext fordern zusätzliche Ressourcen, auch finanzielle, viel Idealismus, Energie und Durchhaltewillen.

«Das Projekt wird sich noch über geraume Zeit weiterziehen und bei der Quellenlage ist ein Ende auch gar nicht absehbar. Das ist beflügelnd, bleibt aber eine Challenge», erläutert Barbara Betschart. Sie möchte das Publikum nach Gonten locken und mit ihm gemeinsam die faszinierende versunkene und trotzdem heutige Klangwelt der Appenzeller und Toggenburger Volksmusik erforschen. «Ähnlich wie z.B. beim Paul-Sacher-Archiv in Basel geht es auch bei unserer Sammlung darum, Sorge zu tragen zum kulturellen Musikerbe eines bestimmten Stils. Der historische und praxiszentrierte Zugriff hilft uns, kompositorische oder spieltechnische Prozesse nachzuvollziehen.» Unnötig zu sagen, dass diese einzigartige Sammlung auch ein Abbild der sozialen Lebenswirklichkeit rund um den Alpstein vermittelt, als Hörreise in die Natur der Klänge und zu den Menschen, die sie erdacht und erspielt haben.

Praktische Informationen

Das Roothuus Gonten ist ein Zentrum der Archivierung, Forschung und Vermittlung der Appenzeller und Toggenburger Volksmusik. Es sammelt und bewahrt Zeugnisse dieser traditionsreichen Musikrichtung und begleitet sie mit wissenschaftlichen Arbeiten, geselligen musikalischen Veranstaltungen und neuartigen Projekten in die Zukunft.

Nebst der wissenschaftlichen Aufarbeitung des reichhaltigen Notenmaterials sowie der Ton-, Bild und Textdokumente weist das Roothuus Gonten eine bedeutende Sammlung an historischen (Volksmusik-)Instrumenten vor.

Besitzen Sie eine private Sammlung, einen Nachlass oder ein persönliches Archiv mit Volksmusik rund um den Alpstein? Wir unterstützen Sie gern bei der Archivierung, Katalogisierung und Digitalisierung.

Kontakt für Impulse, Beratung und Ideen:
Roothuus Gonten
Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik
Dorfstrasse 36, 9108 Gonten
071/794 13 30

info@roothuus-gonten.ch

www.roothuus-gonten.ch

 

Ab ins Netz

Kurzanleitung für den Internet-Zugriff auf die Sammlung:

  1. Wählen Sie die Webseite www.volksmusik.ch
  2. Wählen Sie «Sammlungsdatenbank», Wählen Sie im Titelbalken: «Suche Sammlung»
  3. Geben Sie in «Volltext-Suche» den Titel des Stückes ein. Versuchen Sie bei Mundart-Titeln allenfalls verschiedene Schreibweisen: Appenzell, Appezell oder Appezöll; Hundwil oder Hondwil; Emils oder Emil’s etc.
  4. Falls Titel unbekannt: Codieren Sie einige Takte der Melodie wie oben beschrieben (u für up, d für down, r für repeat). Geben Sie diesen Code zwischen zwei Sternchen (*) in das Suchfeld ein.

 

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