Es ist ein Zeit-Ding!

Michael Egger, der Sänger der Band Jeans for Jesus, ertappt sich beim Warten ständig am Handy. Seine Texte und Melodien brauchten aber Zeit, sagt er, und manchmal Druck. Auf Tour und in ihrer Arbeitsweise ist Warten Alltag für die Band.

Die Berner Band Jeans for Jesus publizierte 2014 ihr erstes Album, nachdem sie mit Estavayeah – auch für sie selbst unerwartet – den Schweizer Sommerhit des Jahres 2013 gelandet hatte. Sie macht zeitgenössisch digitale, sphärisch elektronische Musik mit berndeutschen Texten. Die Mitglieder, Michael Egger (Mike), Philippe Gertsch (Phil), Demian Jakob (Demi) und Marcel Kägi (KG), kennen sich seit der Schulzeit; Jeans for Jesus entstand aus einer Schülerband. Auch das zweite Album «P R O» von 2017, das sie zusammen mit einem Parfum herausbrachten, war ein Erfolg. Im Moment warten die Fans auf das dritte, das Ende dieses Jahres herauskommen soll.

Bereits auf eurem ersten Album singt ihr: «Au di huärä Apps heimer ds Wartä vrlehrt.» Könnt ihr, kannst du noch warten? Ohne Smartphone?
Apps werden ja so programmiert, dass wir möglichst viel Zeit damit verbringen. So kommen die Hersteller an möglichst viele Daten heran und können Werbung schalten. Dagegen kann ich mich natürlich auch nicht wehren und ertappe mich häufig dabei. Nein: Warten kann ich kaum noch ohne Smartphone.

Aber das ist nicht, weil du Jeans for Jesus in den sozialen Medien repräsentieren musst?
Nein, wir sind als Band nicht so aktiv auf diesen Kanälen. Ich lese oft Zeitungen, schaue manchmal Videos. Aber es ist trotzdem viel stumpfsinniges Zeug dabei.

Denkst du, dass mit dem Warten etwas verloren geht?
Ich beschwöre ungern die guten alten Zeiten herauf, deshalb: eher nicht. Nur die Aufmerksamkeit ist ein Problem. Lehrer, die ich kenne, meinen, es sei für die Schüler schwieriger geworden, einen Text zu lesen, sich eine Viertelstunde zu konzentrieren. Man kann diese Entwicklung natürlich nicht abschliessend beurteilen, und ich selbst war schon früher leicht abzulenken, wenn mich etwas nur bedingt interessierte. Ich finde einzig, die Langeweile sollte nicht verloren gehen.

Warten und Langeweile sind also etwas Wichtiges?
Genau, um sich in Geduld zu üben – oder, vor allem bei mir, der eher ungeduldig ist, um Einfälle zu haben. Und es ist auch etwas Schönes.

Nicht nur das Warten haben die Smartphones verändert. Streaming hat auch die Musikwelt auf den Kopf gestellt: Musik kann nahezu gratis abgespielt werden. Auf euren beiden Alben setzt ihr euch kritisch mit Konsum auseinander. Wie stehst du zu diesem neuen Musikkonsum?
Wir haben nie zu einer Zeit Musik gemacht, als man damit noch Geld verdienen konnte in der Schweiz. Deshalb hat der Wandel andere härter getroffen. Wir kennen Musikerinnen und Musiker, die noch Alben mit sechsstelligem Budget produzierten. Damals hat man mit zehntausend verkauften CDs hunderttausend Franken eingenommen. Wir sind nicht weit weg von diesem Bereich, aber verdienen quasi nichts. Doch man kann das nicht aufhalten, schon gar nicht als Einzelner. Ausserdem ist die Produktion grundsätzlich billiger geworden. Musikmachen ist damit viel breiteren Schichten zugänglich und ein Stück weit demokratisiert worden. Man braucht eigentlich nur noch einen PC und im Idealfall etwas Talent. Zudem ist Streaming eine Riesenchance, um anderes zu entdecken – und bekannter zu werden.

Was mich an der Schweizer Situation eher betrübt bezüglich Konsum ist, dass man unbedingt ein, zwei Songs schreiben muss, die vom Radio gespielt werden. Wenn man das nicht macht, ist man als Popband schnell unter dem Radar. Das führt zu vielen Kompromissen, die man auch bei uns hört. Estavayeah oder auch Wosch no chli blibä haben viel weniger Ecken und Kanten als andere Songs. Und bei Spotify wird dieser Effekt verstärkt. Mich erstaunt, wie viele Musiker mittlerweile sehr unauffällige Musik kreieren, die im Hintergrund gespielt werden kann.

Eine Veränderung in Richtung Quantität. Hat das Einfluss auf die Qualität?
Ich glaube, bei uns kaum; wir haben versucht, uns nicht gross darauf einzulassen. Aber natürlich ist der Einfluss spürbar. Hier kommt auch ein Stadt-Land-Graben ins Spiel: Viele Musiker, wie wir als Popband, die zeitgenössische, international geprägte Musik machen wollen, haben fast nur Erfolg in den Städten. Um in der ganzen Schweiz bekannt zu sein, gehen andere sehr viele Kompromisse ein und biedern sich an. Man hört, dass die Musik für eine breite Masse gemacht worden ist.

Auf internationaler Ebene passiert das Gleiche: Im Hinblick auf Streaming-Konsumenten haben Stars wie Drake oder Migos in den letzten Jahren ellenlange Alben mit durchschnittlich 25 Songs publiziert.
Genau, das passiert bei sehr vielen Musikern, die wir auch gerne hören. Und kurze Songs sind auch immer stärker verbreitet.

Auf eurem letzten Album «P R O» sind aber ebenfalls satte 18 Tracks zu hören.
Ja, das stimmt, aber das war kein Kalkül. Dieses Denken funktioniert bei unserer Grösse sowieso nicht, weil Streaming da finanziell unbedeutend ist. Wir wollten einfach keinen mehr streichen. Dafür hatten wir zu wenig Zeit vor dem Release. Eigentlich sollte man einen Monat Zeit haben, um etwas Abstand zu bekommen und danach noch drei, vier Songs zu streichen. Beim neuen Album wird es dafür aber auch nicht reichen.

Die Zeit drängt. Trotzdem habt ihr euch drei Jahre Zeit gelassen zwischen dem ersten und dem zweiten Album. War es ein bewusstes Warten?
Die Faustregel besagt eigentlich: zwei Jahre. Es gibt Bands, die bringen alle zwei Jahre ein Album heraus, weil sie davon leben wollen. Das wäre der ideale Zyklus mit Konzerten usw. Bei uns entsprechen die drei Jahre einem fast natürlichen Prozess. Wir sind alle voll berufstätig und unsere Art Musik braucht auch Zeit …

Was meinst du damit?
Unsere Musik ist insofern zeitgenössisch, als dass wir Instrumente und Stimmen am Computer extrem bearbeiten, Analoges und Digitales verschmelzen, bis wir mit der Klangästhetik zufrieden sind. Das dauert. Und die Sounds so auf die Bühne zu bringen, ist technisch relativ anspruchsvoll. Für unser letztes Live-Set haben wir z. B. das Licht über ein Computerprogramm mit der Musik gekoppelt, was komplizierte und zeitaufwendige Programmierprozesse nötig machte.

Und nun kommt euer drittes Album nach ebenfalls drei Jahren?
Ja! Wenn alles klappt, können wir im Herbst mit den Konzerten anfangen. In dieser Phase sind wir dann an den Weekends ein, zwei Abende weg, vielleicht noch eine Probe, dann ist die Zeit, die wir für Musik zur Verfügung haben, schon wieder weg. Das heisst: Erst nach einem Jahr Touren fängt man langsam wieder an, neue Musik zu machen.

Ihr habt also nicht gewartet, sondern braucht einfach diese Zeit.
Genau, es ist ein Zeit-Ding! Nur wenn die Musik dein Beruf ist, kannst du während der Tour bereits ein neues Album einspielen. Oder du gibst die ganze Freizeit weg.

Von der Musik leben, könnt ihr aber nicht?
Das können nur extrem wenige in der Schweiz und von denen, die es könnten, haben viele einen Job. Bei uns steht es nicht einmal zur Debatte. Ich verdiene vielleicht 10 000 Franken im Jahr, optimistisch gerechnet.

Es ist also mehr ein Hobby als ein Job?
Es ist keins von beiden. Es ist eine Leidenschaft. Wenn wir uns untereinander fragen, «Ist es für dich eigentlich nur ein Hobby?», ist das eher als Witz gemeint.

Wann seid ihr als Band sonst am Warten?
Auf Touren wartet man extrem viel. Meistens muss man bereits am Nachmittag im Club sein, man baut auf, dann wartet man und wartet und isst und wartet wieder.

Wir warten aber auch wegen unserer Arbeitsteilung viel aufeinander. Du machst etwas an der Musik oder am Text, schickst es an die anderen und wartest auf ein Feedback oder dass ein anderer daran weiterarbeitet.

Ist es das, was ihr als Dropbox-Band bezeichnet?
Genau, wir haben einfach etwa fünf Chats, in denen konstant Ideen und Musik hin- und hergeschickt werden. Da drehen Leute, die viel mit uns zu tun haben, fast durch. Alles andere wäre für uns aber nicht sinnvoll. Eine Rockband geht ins Studio und jammt. Bei uns hingegen macht in der Regel Phil eine Skizze, dann kommt der Song meist zu Demi und mir, wir schreiben Melodien mit einem Fantasietext, produzieren weiter. Dann geht der Song zurück,, hin und her. Meist werden zahlreiche Versionen und Skizzen erstellt, zum Teil sind weitere Musikerinnen und Musiker involviert. Die anderen arbeiten von überall an der Musik, Demi und ich von überall an den Texten. Wenn jemand etwas Neues gemacht hat, kann man das unterwegs hören und Feedback geben. Das ist sehr praktisch. Wir haben es immer sehr lustig im Chat. Bis KG alles zu einem Song giessen muss, was weniger lustig ist für ihn.

Dann seht ihr euch als Band gar nicht so oft?
Zu viert? Nein, nur etwa alle zwei, drei Wochen. Demi und ich sehen uns aber im Moment sehr oft, da wir zusammen die Texte schreiben. Und KG und Phil sehen sich wohl auch öfter.

Aber ihr habt schon ein Bandgefühl?
Ja, sehr. Wir gehen immer wieder zusammen weg. «P R O» entstand grösstenteils in Atlanta und Ende Juni sind wir ein paar Tage in Italien. Das sind die besten Momente.

Das klingt extrem locker. Verläuft auch eure Karriere so?
Nur beim ersten Album, denn es gab keinen Druck damals. Damit haben wir vielleicht 2010 oder 2011 angefangen, über Monate passierte manchmal nichts. Aber als «Estavayeah» ein solcher Hype wurde, mussten wir möglichst schnell das Album fertig machen – das war eine Hauruckübung – und auftreten. Wir waren überhaupt nicht darauf eingestellt, eine Band zu sein. Jeder war um die 25 Jahre alt und hatte viel privates Zeug los. Ich hatte damals gerade in der Wissenschaft Fuss gefasst. Erst im Verlauf der Tour haben wir richtig mitbekommen, was passiert war. Und für das zweite Album standen wir dann extrem unter Druck – gefühlt zumindest.

Auch Druck vom Label? Ihr seid ja bei Universal, keinem kleinen Label.
Nein, gar nicht, das sind nur Vorstellungen, die herumgeistern. Der Druck kommt eher von der positiven Presse, vom Feedback, den Erwartungen. Wenn du so gehyped wirst, musst du etwas Gutes machen, etwas Besseres. Wir finden, das zweite Album sei besser als das erste, aber es war viel schwieriger.

Je besser eure Musik wird, desto weniger könnt ihr abwarten und schauen, wie sich die Sache weiterentwickelt?
Das kommende Album wird recht viel entscheiden, zeigen, wie es weitergehen könnte. Es kann sein, dass wir ein, zwei Sachen im Ausland oder in der Westschweiz machen können, das wäre natürlich cool. Auf «P R O» sind ja bereits zwei Songs auf Französisch und wir haben Lust, mit der Sprache zu spielen. Wenn es aber im Rahmen der letzten Tour bleibt, nehmen wir uns vielleicht mehr Zeit und verlassen den bisherigen Zyklus, um etwas Anspruchsvolleres, Merkwürdigeres zu produzieren, wer weiss …

Zeit haben ist also trotz allem wichtig für die Qualität?
Extrem! Gleichzeitig schafft man manchmal nur unter Druck gutes Zeug. «Wosch no chli blibä» haben wir in drei Tagen gemacht. Kurz vor der Veröffentlichung von «P R O» hatten wir Krisensitzung. «Es ist kein einziger Song drauf, der am Radio laufen wird», sagte ich. «Dann müssen wir halt jetzt noch einen machen», meinte KG. Phil ging nach Hause und hat in einem Tag einen Beat produziert, Demi und ich in einem Tag einen Text … Zuviel Zeit ist auch nicht immer gut.

Schnell seid ihr auch im Aufgreifen technischer Entwicklungen.
Ja, wir finden das spannend. Etwa die Perspektive, dass Songs zusammen mit künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben werden könnten. Es gibt aber auch eine grosse Retro-Bewegung, gerade im Feuilleton, die finden alte Geräte, Gitarren, 80er-Synthesizer gut. Einige Journalisten haben uns sogar angekreidet: soviel Digital-Bearbeitung …

Ihr wurdet aber auch sehr gelobt, mit Frank Ocean oder Kanye West verglichen.
Beides, ja. In der Musik sieht man wirklich, dass die Leute Angst haben oder sagen wir: ein Unbehagen der Technik gegenüber. Wir haben einmal am Geburtstag meiner Mutter gespielt. Die Leute dieser Generation mögen Rockbands. Es war mir nicht möglich, ihnen zu erklären, dass es im Grunde dasselbe ist wie Klavierspielen, wenn ich auf ein Pad schlage und dadurch vorprogrammierte Sounds auslöse. Es ist wohl ein Wahrnehmungsproblem. Die Unterscheidung von analogem und digitalem Klang ist schwierig. Vom Moment an, wo man auf eine Taste drückt, gibt es eigentlich keinen «natürlichen» Klang mehr.

Mit KI kommt aber trotzdem die Frage auf, ob es in Zukunft überhaupt noch einen Künstler oder eine Band wie euch braucht?
Es ist doch die Frage, wie man sie künstlerisch wertvoll einsetzt. Wir sind sehr fortschrittsoptimistisch und technikaffin, aber man muss natürlich beobachten, was die Programme leisten. Kanye West arbeitet schon heute vergleichbar: Seit Jahren lässt er von jedem Lied zig Versionen machen, von den Produzenten, die gerade am angesagtesten sind. Aber schliesslich muss jemand entscheiden: Das ist gut und das nicht. Bis KI das kann, wird es in meinen Augen noch recht lange gehen.

Vielleicht wird man das auch dann lieber selber tun, weil es Spass macht?
Ja, das wird superinteressant. Aber was auch sein kann, das sagt Demi immer, dass die Musik an Stellenwert verlieren wird. Die Kids hören heutzutage viel breiter Musik; offenbar geht die Identität nun eher über Videos und Games. Für uns gilt doch: Was man hört, das ist man. Als ich 15 war, bestand ein grosser Graben: Die einen hörten Rap, die anderen Rock. Das ist heute anders – finde ich eigentlich auch besser so.

 

Autoren
Éric und Yann Bolliger studieren an der ETH Lausanne Mikrotechnik resp. Informatik und sind grosse Fans der Band.

 

Website von Jeans for Jesus