Im musikalischen Denken ist das Warten eines der fruchtbarsten Konzepte sowohl für die spekulative Vorstellungskraft wie die technische Argumentation. Der grundlegende Begriff der Unterbrechung – ohne sie würden die Instrumente einer Partitur ständig alle spielen und eine undefinierbare Kakofonie hervorbringen – führt ohne Umwege zum Warten; genauso wie die Idee des Stillstands – wenn also keine Entwicklung stattfindet – zum eigentlichen Wesen des Wartens zurückführt. Schliesslich enthält auch die Notwendigkeit innezuhalten – unabdingbar für die physische und agogische Atmung – im Kern das Warten. Wir können es nicht ändern: Das Bedürfnis zu warten, ist der Musik im Innersten eingeschrieben.

Über diese – wichtigsten und häufigsten – Betrachtungen zum Thema warten in der Musik hinaus können wir uns auch eine andere Art des Wartens vorstellen. Was wir eben angesprochen haben, ist technischer, formaler und synchroner Art (also bezogen auf Inhalte, die sich im Laufe der Zeit nicht verändern). Das Warten hat aber auch etwas Diachronisches, das Kräfte der Menschheitsentwicklung spiegelt und die Zeitalter menschlicher Kultur betrifft. In diesem Sinne ist Warten auch Erwartung, Hoffnung, Perspektive. Es kann sich als Angst oder Ungewissheit äussern, aber auch als Vertrauen. Es geht ganz grundsätzlich um Künftiges: Warten heisst auch, unsere Beziehung zu einer möglichen Zukunft ermessen.

«Wenn Lärm stets Gewalt ist, ist Musik stets Prophetie: Hörend können wir die Zukunft der Gesellschaft vorwegnehmen.» Das schrieb vor einigen Jahren der französische Ökonom, Essayist und Bankier Jacques Attali in Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique. Und wenn dieser Gedanke auch wenig konkret erscheint, so ist er es doch, der der Musik jene im weiteren Sinn kulturelle Verantwortung zurückgibt, der sie nie ausweichen sollte: Wie kann die Musik Ausdruck überzeitlicher Gegebenheiten sein? Wie geht die heutige Musik über ihre Zeitgebundenheit hinaus, um eine Entwicklungsrichtung auszumachen?

Die Antwort ist leider enttäuschend, vor allem wenn wir die führenden Institutionen zur Erhaltung der musikalischen Kultur betrachten: Die Musikhochschulen geben ihre Absichten – zumindest im Lateinischen – bereits im Namen an: «Konservatorium» nicht «Innovatorium». Und die Programme der wichtigsten Konzertveranstalter spiegeln ein Ausdrucksbedürfnis, wie es vor (mindestens) hundert Jahren bestanden haben muss. Die Zukunft flösst in diesen Fällen ehrfürchtigen Schrecken ein, sie zu erwarten, bedeutet Beklemmung und Angst.

Die Zukunft kommt aber auf jeden Fall. Wenn sie uns nicht erschlagen soll, müssen wir begreifen, dass die musikalische Kultur nicht durch das monumentale Konservieren von Werten, Inhalten, Formen und Haltungen der Vergangenheit gerettet wird, sondern dadurch, dass die Möglichkeit der Musik, Kultur zu werden, etwas Natürliches bleibt, wie in vergangenen Zeiten, wo sie so viele köstliche Früchte hervorgebracht hat. Das – gesunde, nicht schreckensstarre – Warten muss sich dynamisch und lebendig dem wunderbaren Unbekannten zuwenden, das uns das Leben bereithält. Auch in der Musik.

 

Zeno Gabaglio
 

… ist Musiker und Philosoph, Präsident der Tessiner Subkommission Musik, Jurymitglied des Schweizer Musikpreises und Mitglied des SUISA-Vorstands.