Cristina Urchueguía

Cristina Urchueguía, Präsidentin der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft SMG, beantwortet die Fragen der Schweizer Musikzeitung.

Wie geht es Ihnen und der SMG nach diesem Jahr?

Das «Pandemie-Jahr» war eines der gemischten Gefühle. Gesundheitlich blieben meine Familie und ich verschont, je enger sich der Kreis um uns zog, desto demütiger und dankbarer waren wir darüber. In meiner Funktion als Professorin beobachtete ich dank eines Sabbaticals die gerade zu Beginn des Lockdowns verwirrende Umschaltung der Lehre auf Videokonferenzen aus der Distanz. Ich habe meine Kollegen und die Studierenden sehr bedauert. Der Verzicht auf Präsenzunterricht beraubt uns Lehrende des persönlichen Kontaktes mit Kollegen und Studierenden. Vor allem für letztere sind die Einschränkungen im akademischen Austausch und im sozialen Miteinander fatal. Ein Studium besteht nicht nur aus Lehrveranstaltungen, es ist eine Lebensphase, in der man neue Eindrücke und spannende Begegnungen sammelt, die nicht unbedingt im Seminarraum stattfinden.

Als Forschende traf ich auch auf Widerstände: Archive und Grenzen wurden geschlossen, dies vereitelte viele Pläne oder erforderte laufend Anpassungen. Man merkt schnell, dass nicht alles im Internet zur Verfügung steht.

Für die Schweizerische Musikforschende Gesellschaft führte das Jahr anfangs zu Stillstand und einer Lawine von Absagen. Zwar hat der Umzug auf Videovorträge einige Veranstaltungen möglich gemacht und sogar Teilnehmer wieder aktiviert, die sonst nicht an die Vorträge kamen, der Bereich des informellen Gesprächs vor und nach den Vorträgen hat mir sehr gefehlt. Beim Apéro oder beim lockeren Gespräch auf dem Flur entstehen viele gute Ideen. Dienst nach Vorschrift ist für die wissenschaftliche Kommunikation Gift.

Was ist für Sie besonders einschneidend an der Corona-Zeit?

Besonders einschneidend waren zwei Erkenntnisse, eine negative und eine positive: Schockierend war, festzustellen, dass unsere Lehr- und Forschungsinhalte augenblicklich von der Pandemie beeinflusst wurden: Ein geplantes Seminar über das Berner Musikleben wird nun die Situation vor, während und nach der Pandemie thematisieren müssen. Ein geplantes Forschungsprojekt über Musik und Tourismus wird nun auch reflektieren müssen, was geschieht, wenn bei bestehender Infrastruktur musikalische Darbietungen verboten und die Mobilität eingeschränkt ist. Auch hier muss man schnell reagieren. Inspirierend dagegen war, zu erleben, dass dank der routinierten Nutzung von Videokonferenzen institutionelle Beziehungen auf internationaler Ebene gepflegt werden konnten, die effizient, zeitschonend und auch noch umweltfreundlich waren. Ich werde ab jetzt viel genauer abwägen, wann eine Flugreise verhältnismässig ist. Der Lockdown hat hier einen willkommenen Prozess beschleunigt.

Wie verändert die Corona-Zeit Ihrer Meinung nach Ihren Verband?

Mein Verband ist von den Einschränkungen im Musikleben zwar nicht direkt, aber doch indirekt betroffen. Wir forschen über Musikerinnen und Musiker, über musikalische Phänomene und über die Bedingungen des Musizierens. Nach der Schockstarre durch den Lockdown sollten wir für die Analyse dieser Veränderungen Verantwortung übernehmen. Ich wünsche mir eine Reflexion darüber, wie Musikforschung einen Beitrag zum Verständnis der Wirkungskräfte und Konsequenzen der Pandemie und zur nachhaltigen Belebung des Musiklebens leisten kann.

Welche Frage möchten Sie dem Bundesrat stellen oder was wünschen Sie sich von ihm, damit die Musikszene wieder auflebt?

Zuallererst wünsche ich mir ein explizites politisches Bekenntnis zur zentralen Wichtigkeit von Musik in Gesellschaft, Kultur, Bildung, Innovation und, last but not least, Ökonomie. Das Verständnis der Musik als soziale Praxis im Kontext eines umfassenden sozioökonomischen Ökosystems wäre die Voraussetzung für eine ganzheitliche politische Verankerung. Erst diese Grundhaltung nährt den Willen zur nachhaltigen Unterstützung des Musiklebens in all seiner Diversität und Komplexität.