Corelli als Modell

Referate, Diskussionen und Konzerte am Internationalen Symposium der Schola Cantorum Basiliensis vom 5. bis 9. Dezember 2013. Ein Bericht.

Konzerte zeichnen die Schola-Symposien aus. Foto: SCB / Susanna Drescher

Jubiläen bestimmen Festivalthemen und Konzertreihen, regen die Tonträgerindustrie an, Neues einzuspielen und Altbekanntes wieder aufzulegen, und verleiten das Verlagswesen zur Publikation zahlreicher Buchtitel. Dass mit all diesen Veröffentlichungen nicht immer neue Erkenntnisse einhergehen (können), ist unbestritten. Umso bedenkenswerter ist der Umstand, dass Jubiläumsanlässe mittlerweile auch die Musikforschung vor sich herzutreiben scheinen; Während etwa in Chicago ein Symposium zu Giuseppe Verdi stattfand, die Folkwang-Universität Essen neben Verdi auch gleich Richard Wagner ins Zentrum ihrer Tagung rückte und die Hochschule der Künste Bern bereits ihre Forschungsergebnisse zur historischen Aufführungspraxis von Wagners Fliegendem Holländer vorgestellt hat (SMZ 11/2013), liess die Schola Cantorum Basiliensis nicht vergessen, dass es 2013 einen weiteren Komponisten zu feiern gab: Arcangelo Corelli (1653–1713).

Gewiss, Corelli ist eine gut erforschte musikalische Persönlichkeit, weshalb das Symposium der Schola Cantorum laut Ankündigung auf Aspekte seines Lebens und der historiografischen Situation in Rom nicht eigens eingehen wollte. Vielmehr sollte Corelli als Kristallisationsfigur barocken Komponierens und Musizierens betrachtet werden, die einen hohen Einfluss auf Zeitgenossen und nachfolgende Generationen hatte: Corelli als Modell.

Breiter Deutungsspielraum
Dennoch kommt man um Rom und die dort damals herrschenden Zustände nicht herum, will man über Corellis Komponieren sprechen – schliesslich musste Corelli die Wünsche und Anregungen seiner Auftrag- und Geldgeber aufnehmen. So gab es denn doch eine ganze Reihe an Vorträgen, die sich den äusseren Umständen seines Lebens und Wirkens widmeten. Im Fokus standen etwa die Architektur im spätbarocken Rom als Kontext für Corelli (Andrew Hopkins) und das Leben als Künstler im Rom der Corelli-Zeit (Renata Ago). Aber auch Rom als Zentrum der katholischen Kirche ist untrennbar mit Corellis Komponieren verbunden.

Antonella D᾽Ovidio stellte den römischen Kardinal Pietro Ottoboni vor, der Corelli gezielt förderte und seine Werke im privaten Rahmen wie auch später in halböffentlichen Akademien aufführte. D᾽Ovidio zeigte auf, wie Corelli seine Musiksprache an den spezifischen ästhetischen Kontext dieses Hofes angepasst und die Vorlieben des Kardinals – melancholische Stimmungen etwa – beispielsweis in seinen Sonaten op. 4 aufgenommen hat. Agnese Pavanello schliesslich stellte die These auf, dass Corelli gezielt daran gearbeitet habe, für die Musiker seiner Generation als kompositorisches Modell zu gelten; seine strikte Veröffentlichungspolitik und seine Erfolge als Orchesterleiter, besonders bei prestigeträchtigen Anlässen im päpstlichen Rom, können darauf hindeuten.

Einblicke in den «Maschinenraum» des Komponisten boten Dominik Sackmann mit Überlegungen zu Corellis möglicherweise wegweisenden Einführung von bestimmten Wiederholungsmustern und Schlussbildungen als formgebendes Prinzip und Nicola Cumer, der auf die Bedeutung der corellischen Werke als musikdidaktisches Modell nicht nur bei der Violine, sondern auch beim Partimento-Spiels hinwies. Alessandro Palmeri und Gregory Barnett beschäftigten sich mit der bislang noch ungeklärten Frage, ob Corelli eine Violone, ein Violoncello da spalla oder gar ein anderes Instrument für seine Kompositionen bevorzugte; und Barbara Leitherer erprobte tanzenderweise, ob sich wegen mangelnder zeitgenössischer Quellen zum italienischen Tanz die französischen Choreografien jener Zeit auf Corellis Tanzsätze übertragen lassen – was bei der Gigue gar nicht, bei anderen Tänzen aber mit Modifizierungen möglich ist, und was dennoch nicht die Frage beantwortet, ob zu Corellis Tänzen tatsächlich getanzt wurde.

Wenn auch die Erkenntnisse der zahlreichen Vorträge nicht immer grundlegend neu und die zur Thesenerhärtung herangezogenen Quellen mitunter einen breiten Deutungsspielraum zuliessen, so konnte sich die Zuhörerschaft zu manchen Themen dank hochstehender Musikdarbietungen selbst ein Urteil bilden.

Überraschende, farbenreiche Tonsprache
Beim nahezu ausverkauften ersten Abendkonzert stellten Studierende der Schola Cantorum unter der Leitung von Giovanni Alessandrini (im Rahmen der Reihe Freunde Alter Musik Basel) das Weihnachtsoratorium von Giovanni Lorenzo Lulier vor. Lulier war ein enger Kollege Corellis am Hof des Kardinals Ottoboni und nahm unter anderem die von Corelli geprägte Aufteilung der Orchestermusiker in Concertino und Concerto grosso auf. So waren herrliche Soli-Wettstreite zu vernehmen; und die variierende Besetzungsstärke erlaubte zusätzliche dynamische und charakterliche Differenzierungen. Da die einleitenden Instrumentalsätze, der damaligen Praxis gemäss, von einem anderen Komponisten – in diesem Fall von Corelli – stammten, hörte man aber deutlich, dass Luliers Tonsprache weniger prägnant, weniger farbenreich, weniger überraschend ist als diejenige Corellis.

Doch was macht Corellis Tonsprache eigentlich aus? Dieser Frage konnten die Teilnehmer des Symposiums beim Mittagskonzert mit Studierenden nachgehen, die Sonaten von Corelli mit geklärter und solche mit ungeklärter Autorschaft vorstellten. Sind es die virtuosen Violin-Soli? Sind es die kantablen Melodielinien? Ist es gar der eloquente Gebrauch der None (den zuvor Johannes Menke in seinem Vortrag eigens gewürdigt hatte)?

Dass auch die Corelli-Forscher sich in diesen Fragen uneinig sind, zeigte eine Gesprächsrunde über die problematische Zuschreibung derjenigen Sonaten, die Hans Joachim Marx in seinem Katalog als Werke mit zweifelhafter Autorschaft bezeichnet. Agnese Pavanello stellte dabei zur Diskussion, wie man philologische und stilistische Kriterien bei der Beurteilung gewichten und miteinander verknüpfen könnte – was bei einem so umfangreichen Œuvre und einer so vielschichtigen Quellenlage besonders schwierig ist.

So ging ein interessantes, vielgestaltiges Arbeitsgespräch zu Ende. Vermutlich wäre es noch ertragreicher gewesen, wenn man nicht so manchen Vortragenden aufgefordert hätte, seine Thesen spontan in einer anderen Sprache als in der vorgesehenen zu präsentieren. Das trug nicht unbedingt zur Verständigung bei – und hätte ohne Mühe auch im Vorfeld abgesprochen werden können.

Hervorzuheben bleibt, dass gerade bei den Konzerten im zahlreich erschienenen Publikum eine freudig gespannte Atmosphäre herrschte, in der Erwartung, hier etwas Neues Altes zu hören. Solche Konzerte mit wissenschaftlichen Tagungen zu verbinden, ist nach wie vor ein wichtiges Qualitätsmerkmal der Schola-Symposien – auch an Jubiläumsanlässen.
 

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