Der Einsiedler Bach

Johann Christian Bach (1735-1782) hat in der Musikwissenschaft zur Abgrenzung von den anderen Familienmitgliedern verschiedene Beinamen. Man spricht vom Mailänder Bach, vom Londoner Bach, vom Pariser Bach, vom katholischen Bach. Schon diese Aufzählung deutet darauf hin, dass der jüngste Sohn von Johann Sebastian Bach in seinem Leben geographisch die weitesten Kreise zog. Im 18. Jahrhundert war Johann Christian international gesehen zweifellos das berühmteste Mitglied der Musikerfamilie Bach. Aber warum soll er der Einsiedler Bach sein?

Älteste Abschrift des Miserere aus dem Jahr 1757: Deckblatt Violine 1,Fotos: zvg

Kurz vor seinem 15. Geburtstag starb sein Vater in Leipzig. Johann Christian kam in die Obhut seines ältesten Bruders Carl Philipp Emanuel nach Potsdam. Bereits vier Jahre später zog er nach Italien, um seine Studien fortzuführen. Ihm war es vergönnt, zu verwirklichen, wovon sein Vater und seine Brüder nur träumen konnten. Die sieben Jahre in Italien (1754-1762) sollten für den jungen Komponisten von grosser Bedeutung werden. In der Person des vermögenden Mailänder Grafen Agostino Litta fand er einen musikbegeisterten Mäzen und in Padre Giovanni Battista Martini von Bologna einen der besten Lehrer Europas. Zum Verdruss seiner Verwandtschaft trat Johann Christian bereits im Jahre 1757 zum katholischen Glauben über – zugegeben nicht ganz selbstlos. Ein Mailänder Domorganist musste katholisch sein. Zu seinen ersten Kompositionen für seinen Mäzen zählen das Totenoffizium und die Totenmesse (1757). Eine Laufbahn als katholischer Kirchenmusiker schien vorgezeichnet. Leider kam es anders. Johann Christian wurde angesteckt vom Opern-Virus, das damals in ganz Italien, so auch in Mailand grassierte. Er liess die Kirchenmusik immer mehr beiseite, begann, Opern zu komponieren und erhielt verlockende Angebote – sogar aus London. Bereits im Herbst 1762 liess er sich für ein Jahr beurlauben, zog nach London – und kam nie mehr zurück. Den Rest seines Lebens verbrachte er in London und Paris, schrieb vor allem Opern, Konzerte und Sinfonien und mied die Kirchenmusik. Die Jahre in Mailand sollten nur eine kurze Episode in seinem Leben bleiben. Aber ausgerechnet in dieser Episode wurzelt der Bezug zum Kloster Einsiedeln.

Von 1675-1852 führten die Einsiedler Mönche ein Filial-Kloster mit einer Schule in Bellinzona. Dadurch verfügte Einsiedeln über einen direkten Zugang in den Süden, speziell nach Oberitalien mit den Musikzentren Mailand, Como und Bergamo. In der Person des späteren Abtes Marian Müller war gar ein Einsiedler Pater wie Johann Christian Bach Musikstudent in Mailand. Persönliche Kontakte sind zwar nicht nachweisbar, aber mehr als wahrscheinlich. Anders ist kaum erklärbar, warum nach dem Stand der heutigen Forschung in der Musikbibliothek des Klosters Einsiedeln weltweit der grösste Bestand an frühen Abschriften von Johann Christian Bachs Sakralwerken liegt. Zeitgenössische Abschriften, keine Autographe. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg müssen die in Hamburg gelagerten Autographe als zerstört gelten. Damit werden die Einsiedler Abschriften zu den ältesten Quellen. In der Einsiedler Musikbibliothek liegen 32 originale Kirchenmusikwerke von Johann Christian Bach, darunter die weiter oben genannte Totenmesse und der Psalm Miserere, der ebenfalls im September vom Bach Ensemble Luzern neu aufgeführt wird. Dazu kommen 29 Kontrafakturen, 8 davon aus sakralen Werken und 21 aus Opern – ein sprechendes Zeichen dafür, dass das Opern-Virus auch ins Kloster eingedrungen war. Die verlorene Oper Temistocle kann nur durch 14 in Einsiedeln erhaltene Kontrafakturen wenigstens musikalisch teilweise rekonstruiert werden. Alles in allem doch Grund genug, vom Einsiedler Bach zu sprechen.
 

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Ausschnitt aus dem Miserere B-Dur von Johann Christian Bach. Frühe Abschrift aus der Musikbibliothek Einsiedeln.

Konzert mit Werken von Johann Christian Bach

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