So historisch informiert wie möglich

Eine Tagung in Bern untersuchte, wie Wagners «Fliegender Holländer» an der Uraufführung in Dresden am 2. Januar 1843 geklungen haben könnte.

Der fliegende Holländer, Gemälde von August Strindberg (s.u.)

Seit die Fachhochschulen aufgefordert sind, selbst Forschung zu betreiben, ist die Wissenschaftswelt um einige Projekte reicher. Die Interpretationsforschung ist dabei ein besonders beliebtes Gebiet, das praxisnah auch an der Hochschule der Künste Bern bearbeitet wird. Alle entsprechenden, derzeit laufenden Projekte wurden an der Tagung Improvisieren – Interpretieren der Öffentlichkeit vorgestellt und mit externen Gästen diskutiert: Richard Wagner in historischer Aufführungspraxis, pianistische Improvisationen der Beethovenzeit, das Werk Alfred Wälchlis, eine neue, sensorisch-dynamische Kontrabassklarinette sowie historisch informierte Didaktik der Musiktheorie anhand von Peter Cornelius’ Wirken. Die auf zwei Wochenenden verteilten fünf Symposien zeigten etliche Parallelveranstaltungen, was zu bedauerlichen Überschneidungen führte. Wer sich für Wagner interessierte, konnte kaum Vorträge über die Klavierimprovisationen hören. Unter anderem thematisierte Giorgio Sanguinetti dort das Partimento zu Beethovens Zeit, Michael Lehner nahm sich Carl Czernys Modellkompositionen als Anleitung zum Fantasieren vor, Sonja Wagenbichler berichtete über pianistische Wettstreite im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts. Petra Somlai und Leonardo Miucci trugen in Mittags- und Abendkonzerten zum Praxisbezug des Themas bei und demonstrierten auf Hammerklavieren ganz verschiedene Stilrichtungen von (teil-)improvisierter Musik.

Die Sicht des Orchestermusikers
Auch beim Symposium Richard Wagner historisch. Interpretationspraxis zur Uraufführung des Fliegenden Holländers 1843 war die enge Verbindung von Wissenschaft und Praxis stets spürbar. Schon die Idee, die Orchesterstimmen der Uraufführung in Dresden zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen, offenbart die Sicht eines Orchestermusikers. Sie stammt von Kai Köpp, der zurzeit eine SNF-Förderprofessur an der HKB innehat. Köpp ist sowohl Musikwissenschaftler als auch Bratschist und hat 2005 an der Einspielung des Holländers in historischer Aufführungspraxis unter der Leitung von Bruno Weil mitgewirkt.
Die bislang noch nicht untersuchten Dresdner Orchesterstimmen enthalten aufgrund der damaligen Probenpraxis deutlich mehr spielpraktische Informationen als die autografe Partitur: Wagner studierte seine Oper mit den Sängern nicht wie heute üblich mit Klavierbegleitung, sondern mit einem Streichquartett ein – und dabei entstand die eigentliche «Fassung letzter Hand».

Sollten sich die Quartettprobenstimmen auch zu anderen Opern erhalten haben, eröffne sich ein grosses Forschungsfeld, konstatierte Köpp. Das philologische Problem, wie die mitunter vielfältigen Eintragungen der über Jahrzehnte im Opernbetrieb verwendeten Stimmen datiert werden können, müsse von Fall zu Fall behandelt werden. Ohnehin bewege sich die Interpretationsforschung hin zu Untersuchungen der einzelnen Aufführungssituationen. Die grossen regionalen Unterschiede und der rasche Wandel der Interpretationspraxis machen generelle Aussagen zur Aufführungspraxis einer bestimmten Zeit beinahe obsolet.

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Zeichnung von der Urauf- führung des «Fliegenden Holländers»
wikimedia commons

Tempo, Aufstellung, Instrumente
Einen eigentlichen Paradigmenwechsel in der historischen Aufführungspraxis würden auch die Untersuchungen zu den Metronomangaben in Wagners Holländer einleiten, konstatierte Thomas Seedorf in Anknüpfung an den Vortrag des Berner Klavierdozenten Manuel Bärtsch. Fortan werde es nicht mehr um besonders schnelle, sondern um besonders langsame Tempi gehen. Ob und wie man die von Wagner notierten, teilweise extrem langsamen Tempi überhaupt realisieren kann – zum Beispiel in der Ouvertüre, die mit punktierte Halbe = 72 weit entfernt vom rasend-schnellen Rausch heutiger Interpretationen ist – und wie man diese zusätzliche Zeit auf der Bühne ausfüllt, das müssen zukünftige praktische Versuche zeigen.

Tobias Pfleger zeigte auf, welche Schwierigkeiten Wagner mit der in vielerlei Hinsicht konservativen Dresdner Hofkapelle hatte, etwa die Kompetenzstreitigkeiten mit dem Konzertmeister: Bilder der damaligen Dresdner Orchesteraufstellung zeigten einen Dirigenten, der direkt hinter dem Souffleurkasten stand, das Gesicht der Bühne zuwandte und so den Sängern den Takt angab. In seinem Rücken befand sich das Orchester, welches in Richtung der Bühne spielte. Der Konzertmeister nahm vom Dirigenten den Takt ab und gab ihn an das Orchester weiter, verstand sich daher als eigentlicher Leiter des Orchesters.

Wie die Präsentation eines Krimi-Drehbuchs erschien der Vortrag des Dresdners Bernhard Hentrich: Die Streichinstrumente der Dresdner Hofkapelle zur Zeit Wagners. Was Hentrich da zutage brachte, ist so brisant, dass er bislang eine Vorstellung seiner Ergebnisse in Dresden vermieden hat: Es seien nicht die verheerenden Luftangriffe von 1945 gewesen, welche die wertvollen Instrumente der Hofkapelle unauffindbar gemacht haben, sondern die unübersichtlichen Umstände der Nachkriegszeit. Seine Untersuchungen zu allen erhaltenen Inventarlisten legen den Schluss nahe, dass nicht wenige Musiker und Verwaltungsangestellte «Kulturgüter vor dem Bolschewismus retten» wollten. Sie tauschten mitunter billige Nachbauten gegen wertvolle Instrumente aus, ohne dies zu vermerken. Wer heute also nach dem Instrumentarium forscht, mit dem Wagner in seiner Dresdner Zeit arbeitete, stösst unter Umständen auf ein solch nachgebautes Ersatzinstrument – und könnte fatale Schlüsse für die Aufführungspraxis ziehen.

Doch lieber traditionell?
200 Jahre Wagner – reif für die historische Aufführungspraxis? lautete schliesslich der provokante Titel der Diskussionsrunde am ersten Abend des Symposiums. Auf welche aktuellen Phänomene sich dieser multiperspektivische Titel bezieht, wurde im Verlauf des Symposiums immer wieder deutlich. Da ist zum einen der generelle – nicht nur Wagner betreffende – Jubiläumsaktionismus. Gewiss: Auch an der Hochschule der Künste Bern nimmt man den 200. Geburtstag Richard Wagners zum Anlass, die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts in einer konzertanten Aufführung des Holländers zu präsentieren. Am 22. November setzen Studierende die Erkenntnisse praktisch um und machen sie so einem breiten Publikum zugänglich.

Aber auch die mäandernd um sich greifende Bewegung der historisch informierten Aufführungspraxis wird hier angesprochen. Zwar wird heute kaum noch gefordert, historische Aufführungspraxis habe sich in erster Linie um vergessenes Repertoire zu kümmern. Doch die Notwendigkeit, historische Gegebenheiten auch bei einem Œuvre wie demjenigen Wagners, das seit der Entstehung über eine ungebrochene Aufführungstradition verfügt, zu rekonstruieren, wird bis anhin nur selten gesehen. Interpretationen wie etwa die konzertante Aufführung des Parsifal unter Thomas Hengelbrock, die Anfang dieses Jahres in Dortmund, Essen und Madrid für Furore sorgte, und von der Peter Tilling, Hengelbrocks damaliger Assistent (und jetzt stellvertretender Generalmusikdirektor am Staatstheater Nürnberg), beim Symposium eindrucksvoll berichtete, bleiben die Ausnahme.

Und schliesslich wird hier implizit auch die Frage nach der Offenheit der Musikforscher gestellt. Orchesterstimmen, Metronomangaben etc., wie sie das Berner Wagner-Projekt untersucht, wurden bisher von der philologisch orientierten historischen Musikwissenschaft vernachlässigt; ihre Existenz oftmals in die Fussnoten der kritischen Gesamtausgaben verbannt, wo sie für praktische Musiker nur schwer auffindbar sind. Die universitäre Musikwissenschaft tut gut daran, solch aufführungspraktische Forschungen nicht als Marginalie oder Konkurrenz zu betrachten, sondern als Bereicherung.

Bild: Der fliegende Holländer (Uvejr i Skærgården. «Den flyvende hollænder», Dalarö), Gemälde von August Strindberg,1892, Staatliches Kunstmuseum Kopenhagen, fotografiert von www.smk.dk und soeg.smk.dk, wikimedia commons

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