Vermessene Virtuosität

Eine umfangreiche Untersuchung widmet sich der Klavieretüde im 20. Jahrhundert. Sie ist als Dissertation entstanden. Und genau darin liegt wohl das Problem für Leserinnen und Leser.

In den ersten Abschnitten gibt uns die Autorin einen historischen Überblick über die Gattung der «Etüde»: Worin liegt der Unterschied zwischen Etüde und Exercice? Was macht eine Salonetüde aus? Und wie fügen sich die Konzertetüden von Chopin und Liszt in diesen Kontext? Auch über das Virtuosentum ganz allgemein weiss die Autorin allerhand Lesenswertes zu berichten: Wie kann sie erworben werden? Wie hängen Virtuosität und Geschwindigkeit zusammen? Ist Virtuosität heutzutage positiv oder negativ besetzt?
All diese Aspekte erläutert Sandra Simone Strack in einer sehr differenzierten, aber gleichzeitig leicht lesbaren Sprache. Der Kern ihrer über 350-seitigen Arbeit liegt dann in der genauen Analyse einiger Klavieretüden des 20. Jahrhunderts: Werke von Skrjabin, Ives, Bartók, Messiaen, Wyschnegradsky, Cage, Kagel und Ligeti. Dabei werden nicht nur die einzelnen Stücke bis in den verborgensten Winkel durchforstet, die Autorin versucht auch auf zahlreichen Tabellen, die Werke anhand vergleichender Statistiken in Beziehung zu bringen. Doch was bringen all diese Zahlen und Fakten? Ein persönliches Fazit lässt sich aus all diesen Bemühungen kaum herauslesen; auch für Kenner der Materie bleibt die Antwort unbefriedigend. Vielleicht wäre es erhellender gewesen, den Bezug zur klavierspielenden Praxis zu suchen und deren Erfahrung einzubringen? Die Aussage der Autorin, «eine Befragung von Pianisten hätte aber auch nur subjektiv gefärbte Werte ergeben», greift doch etwas zu kurz. Sinn und Unsinn von Dissertationen: Ein weites Feld!

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Sandra Simone Strack, Die Klavieretüde im 20. Jahrhundert. Virtuose «Fingerübung» für den Interpreten oder Komponisten? Analysen ausgewählter Beispiele, 374 S., € 39.95, Tectum Verlag, Marburg 2013, ISBN 978-3-8288-3166-7

 

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