Schweizer Musikhochschulen im Krisenmodus

Die Corona-Krise macht auch vor den Schweizer Musikhoch-schulen nicht Halt. In kurzer Zeit hat sich das Leben für die Musikhochschulen, Dozieren-den und Studierenden verän-dert. Wie sollen die Betroffe-nen mit dieser Krise umgehen?

Susanne Abbuehl — Alles ging Schlag auf Schlag: Am 11. März fanden noch Jazz Bachelor-Konzerte statt. Wir waren erleichtert, dass wir die damaligen Auflagen des Bundes erfüllen und dass die Studierenden die Konzerte wie geplant spielen konnten: «Carte Blanche»-Konzerte kurz vor Abschluss des Bachelorstudiums, mit der Möglichkeit, hören zu lassen, wo es künstlerisch hingehen könnte. Am Freitag, 13. März erfuhren wir, dass bis auf weiteres auf Präsenzunterricht verzichtet werden musste. Innerhalb einer Woche stellten wir den gesamten Studienbetrieb um. Hören, Interagieren, Klangnuancen und Raumakustik – wie sollte Musik studieren auf Distanz funktionieren? Natürlich war Blended Learning bereits vor Covid-19 Thema, und viele Dozierende interagierten auch digital mit Studierenden. Dies fand aber immer in Ergänzung zum Präsenzunterricht statt, den wir alle als unersetzliches Kernstück betrachtet hatten.

In den letzten Wochen musste die Lehre neu erfunden werden. Wir wurden dabei sehr gut begleitet von der Hochschulleitung: Die Informationen waren transparent und folgten stets zeitnah auf die Weisungen des Bundes. Grosses Engagement und Betroffenheit waren und sind spürbar. Wir setzen alles daran, auch auf Distanz in Kontakt zu bleiben, um die Studierenden weiterhin gut betreuen zu können. Dabei rücken zeitweilig Themen stärker in den Fokus, die sich sonst auf andere Weise lösen: Übemöglichkeiten etwa oder die finanzielle Überlebensfähig-keit von Studierenden. Auch da suchen wir nach Lösungen und bieten Unterstützungsmöglichkeiten. Auf Distanz wurde es wichtiger als je zuvor, die Lehre der Situation anzupassen: Das zeitgleiche Zusammenspiel war während Liveschaltungen schwierig, aber es bestand nun Anlass und Raum, auch unbegleitet zu musizieren und sich selbst häufiger aufzunehmen.

Kontakt auf Distanz – Studierende betreuen

In Blogs, Inputvideos und im Austausch miteinander lernen wir voneinander und konzentrieren uns darauf, was trotzdem möglich ist. Dabei werden Ansätze zu einer neuen Methodik und eine verbindlichere Selbstevaluation der Studierenden spürbar. Die Lehre wird zum Gemeinschaftsprojekt: Wie schaffen wir das zusammen? Hans-Jürg Rickenbacher, Gesangsdozent im Profil Klassik, nennt das neue Format seines Unterrichts HomeVoice. Die Fachschaft, die schon vor der Viruskrise im gemeinsamen Austausch aktiv und innovativ war, nutzt alle verfügbaren Plattformen und kreierte umgehend ein Forum und Archiv in Form eines Blogs. Chiara Schönfeld, Master Performance Studentin, sieht auch Vorteile in der Vielfalt an Formaten, in der Unterricht zurzeit stattfindet. «Die Inputvideos von Dozierenden kann ich im eigenen Tempo und zeitlich freier bearbeiten.» Sie mag es, dass die Dozierenden in der Umsetzung einen persönlichen Stil erkennen lassen. Durch den Austausch von Aufnahmen habe sie sich zudem selbst differenzierter hören gelernt und könne Feedbacks besser einordnen.

Das Team der Musikbibliothek stellt die Grundversorgung an Literatur und Musiknoten für Studierende, Dozierende und Forschende auch weiterhin sicher – mit einem elektronischen Dokumentenlieferdienst, Postversand und einem breiten Angebot an Medien und entsprechendem Support. Auch hier lautet also der Anspruch, dass unsere Studierenden (fast) wie gewohnt betreut werden sollen. Julian Dillier, Institutsleiter Musikpädagogik, sagt, dass die Umstellung auf Videokonferenzen in Leitungsgremien abrupt war, aber erstaunlich gut funktioniert. Eine besondere Herausforderung stellen die Berufspraktika dar. Trotz Schulschliessungen musste nicht überall aufgeschoben werden: Einige Studierende entwickeln zusammen mit den Praktikumslehrpersonen neue Formate – eine Kompetenz, die ihnen auch später helfen wird.

Die Frage nach den möglichen Auswirkungen des Covid-19-Einschnitts auf Lehre und Forschung beschäftigt Antonio Baldassarre, Leiter Forschung und Entwicklung. Denkbar ist die Erschliessung neuer Forschungsthemen: Nähe und Distanz im Musikunterricht zum Beispiel wird gerade neu definiert. Er beobachtet auch die kreativen Lösungen, welche in Kunst und Kulturwirtschaft gerade entwickelt werden und neue relevante Forschungsfragen generieren.

Aktuell beschäftigt uns das Thema Prüfungen. Die Studierenden wünschen sich zurecht einen «würdigen Abschluss», wie Chiara es formuliert hat. Die öffentlichen Abschlusskonzerte markieren dabei jeweils den Start in die Berufspraxis und machen die langjährige intensive Arbeit an künstlerisch-musikalischen Fähigkeiten hörbar. Welche Erkenntnisse werden wir aus dieser intensiven Phase des Lernens mitnehmen? Das wird uns bestimmt noch lange beschäftigen. Die Aufnahmeprüf-ungen, die 2020 in einem mehrstufigen Verfahren mit Videobeurteilung und Liveschaltung stattfinden, verlaufen bisher sehr positiv: Es ist auch online möglich, verbindlichen Kontakt herzustellen. Reale Präsenz bleibt aus unserer Sicht allerdings unverzichtbar.

Susanne Abbuehl

… ist Leiterin des Instituts für Jazz und Volksmusik und Mitglied der Departementsleitung, Hochschule Luzern – Musik.

MvO — Was tun, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Wenn die Klientel ebenso wie die Studierenden verzweifeln, aus Einsamkeit wie Existenzängsten? Seit 16 Jahren gibt es an der Hochschule der Künste Bern die Agentur KULT, die es den Studierenden ermöglicht, mit Auftritten in der Arbeitswelt Fuss zu fassen und sich Gedanken zu machen zur Selbstvermarktung oder zur Portfolio-Karriere. Doch plötzlich befindet sich die Welt in einer Schockstarre, und in der Agentur trifft Absage um Absage ein – keine Auftritte mehr an Festivals, Diplomfeiern, Hochzeiten und Trauerfeiern. Die Agentur steht dabei direkt im Austausch mit verschiedenen Zielgruppen aus allen Generationen. Als Leiterin der Studierendenagentur geht Claudia Kühne proaktiv vor, denn Alternativen werden dringend benötigt. Dies sowohl für ein soziales Miteinander in Zeiten der körperlichen Distanz als auch zur Unterstützung der prekären Situation vieler Studierenden, die sich laufend verschärft.

Kreativ sein, so lautet Kühnes Antwort. Gibt es Wege, weiterhin ein musikalisches Ständchen in einem Pflegeheim zu spielen, ohne ein Risiko einzugehen oder das Pflegepersonal zusätzlich zu belasten? Ja, mittels Telefon, das es praktisch überall gibt. So entstehen laufend neue Angebote, die auch in der akuten Krisenzeit gewährleistet werden können. Und die Kreativität könnte belohnt werden, indem auf diese Weise auch eine neue Kundschaft akquiriert wird. Zudem setzen sich die Musikerinnen und Musiker sowie die Darstellenden in einem neuen Kontext mit der Digitalisierung auseinander. Sie haben erkannt, was für ein Potenzial in den digitalen Kanälen steckt. Claudia Kühne und ihr Mitarbeiter Nicolas Wolf unterstützen sie darin, sich mit den Technologien vertraut zu machen, sei es durch technische Tipps oder durch einen eigenen YouTube-Kanal. Die Studierenden sind plötzlich mit Fragen konfrontiert: nach dem Zielpublikum, nach dem Erreichen eines Publikums, aber auch nach dem Aufbau und der Pflege ihres persönlichen Netzwerks. Diese Fragen stehen in direktem Zusammenhang mit der Arbeit von KULT, aber sie bekommen in der Krise eine neue Aktualität. Die so entstehenden Formate werden aktuell getestet und auch nach der Krise das Angebot ergänzen, so Claudia Kühne. Die Studierenden, bestätigt sie, haben sehr positiv auf ihre Initiative reagiert und nehmen die «Corona-Zeit» auch als kreativen Motor wahr. Die Hochschule der Künste Bern und ihre Studierenden können so eine aktive und positive Rolle in der verunsicherten Gesellschaft spielen, im Hier und Jetzt.

> www.kult-agentur.ch

Claudia Kühne

… ist Leiterin der KULT Studierendenagentur der BFH Hochschule der Künste Bern.

Sibille Stocker — Die freien Tage während der Basler Fasnacht haben zahlreiche Studierende der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel für Besuche und Auftritte in ihren Heimatländern genutzt. Einige von ihnen sitzen dort immer noch fest. Abgesagte Konzerte, Währungsabwertung in der Heimat, Arbeitslosigkeit der Eltern, die das Studium finanzieren und/oder der Ausfall allfälliger Nebenjobs sind für viele existenziell. «Mein Studium finanziere ich aus meinen Ersparnissen. Die Abwertung der brasilianischen Währung lässt diese rasant schrumpfen. Für die Unterstützung aus dem Solidaritätsfonds bin ich sehr dankbar.» Der Jazz-Saxofonist F. M. ist einer von 141 Studierenden, der ein Notstipendium beantragt hat. Unmittelbar nach dem Lockdown kamen die ersten Hilferufe von Studierenden in Not, umgehend wurde bei der Stiftung zur Förderung der Musik-Akademie Basel ein Solidaritätsfonds eingerichtet und ein Spendenaufruf lanciert. Rund 70 Personen aus dem Umfeld der Musik-Akademie und den Reihen der Dozierenden der Hochschule für Musik sind dem Aufruf innert weniger Tage gefolgt und haben mehr als 190 000 Franken gespendet. Noch vor Ostern wurden alle Anträge geprüft, 121 Notstipendien konnten ausbezahlt werden. Eine grossartige Aktion!

Unabsehbare Folgen für den Musikmarkt

«Alle meine Konzerte und auch meine Projekte mit Schweizer und Mexikanischen Musikern wurden abgesagt. Die Situation in meiner Heimat ist katastrophal. Ich mache mir grosse Sorgen.» Auch der Schlagzeuger E. S. erhielt einem Zustupf aus dem Solidaritätsfonds. Was ihn allerdings weit stärker belastet als der finanzielle Engpass, ist die ungewisse (kulturelle) Zukunft. Das spanische Quartett Kebyart, vier junge Saxofonisten, die zur Zeit in unterschiedlichen katalanischen Städten im «confinamiento» ausharren müssen, schildern es wie folgt: «Die Stillegung des Musikmarktes ist das eine, das andere ist die Unsicherheit darüber, was längerfristig mit bereits programmierten Auftritten passieren wird. Diese Lähmung, dieses auf Stand-by gesetzt sein und nicht wissen, wie lange noch, das ist zermürbend.» Für Jazzer*innen und Kammermusiker*innen ist gemein-sames Üben in Zeiten des Lock-downs weitgehend unmöglich, zu gross sind die Online-Latenzen, auch der aktuellsten technischen Medien. F. M. bringt es auf den Punkt: «Wir haben kein Miteinander mehr, Jazz ist Interaktion zwischen Musiker*innen und mit dem Publikum. In dieser Zeit verlieren wir alle unsere unique moments

Neues ausdenken, arrangieren, reflektieren, lernen

Die Situation dieser sechs Musiker aus dem hispano-portugiesischen Raum steht exemplarisch für viele ihrer Musikerfreund*innen und Kommiliton*innen. Die Sorge um ihre Lieben, die Zukunft des Studiums und neue berufliche Ungewissheiten treiben sie um. Aber alle sind sie intensiv daran, sich kreativ mit den aktuellen Begebenheiten auseinanderzusetzen. Eine Möglichkeit hierfür eröffnet nicht zuletzt die Aktion «musicalthoughts4u» der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel. Die Studierenden wurden aufgefordert, unter Wahrung des Social/Physical Distancing, ihr ganzes künstlerisch-kreatives Potential für innovative Musikvideos einzusetzen und diese selbst zu produzieren – Geldpreise winken den Sieger*innen, um diese Anstrengungen in Zeiten der finanziellen Knappheit auch sinnvoll würdigen zu können. So können die Studierenden der Basler Musikhochschule den Leidtragenden der Corona-Krise vielleicht mit einer Art «musikalischer Umarmung» einen virtuellen Ersatz für die schmerzlich vermissten unique moments schenken.

> www.fhnw.ch/musicalthoughts4u

Sibille Stocker

… ist Leiterin des Instituts für die Kommunikation an der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel.

In der nächsten Ausgabe wird an dieser Stelle versucht, die neuen Lehrmethoden, welche aufgrund der Corona-Krise an den Schweizer Musikhochschulen angewendet werden, näher zu beleuchten.

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