Der Don-Juan-Taumel

Russische Pianisten – Gendern nicht nötig – und die Paraphrasen über Mozart-Opern von Liszt

Frank-Thomas Mitschke — Von je her Virtuosenfutter reinsten Wassers – oder besser Champagners – sind die Réminiscences de Don Juan von Franz Liszt, ebenso seine weniger bekannte, von Busoni beendete Fantasie über Die Hochzeit des Figaro. Ein kleiner Interpretationsvergleich unter Pianisten der Russischen Schule zeigt unterschiedliche Ansätze. Wundern muss man sich darüber, wie wenig Pianisten dieser Provenienz sich mit diesen beiden Werken befasst haben.

Auf Teufel komm raus spielt den Don Juan der junge Nikolai Demidenko, von Anna Kantor am Gnessin-Institut sowie von Dmitri Bashkirov am Moskauer Konservatorium ausgebildet. Von der ersten Note an ist alles auf den wahnsinnigen Champagner-Taumel des Schlussteils ausgerichtet, den er in höllischem Tempo und unter Verzicht auf Punkt und Komma durchrast, als hinge sein Leben davon ab. Dass dabei der untote Komtur ebenso auf der Strecke bleibt wie eine zur Handreichung aufgeforderte Zerlina ist verständlich – der moussierende Champagner in Einheit mit dem siegesbewussten Auftritt des Titelhelden spricht eben einen jungen Pianisten in seiner Sturm-und-Drang-Phase stärker an als Liebesgeflüster mit einer Bäuerin.

Demidenko bleibt hier ein wenig in der Tradition eines Simon Barere, von Anna Essipowa und Felix Blumenfeld in St. Petersburg ausgebildet, der viele Jahre vorher in ähnlicher Disposition des Stückes durch den champagnerisierten Höllenschlund der technischen Herausforderungen tobte und sich vergleichsweise wenig um feinziselierte musikalische Gestaltung kümmerte.

Anders geht der große Grigori Ginsburg die Aufgabe an. Ohne der Schlussstretta im mindesten einen Hauch an Virtuosität schuldig zu bleiben, findet er Raum und Zeit, um aus jeder noch so stereotypen technischen Tücke Musik zu machen. Sich abwechselnde, über die gesamte Tastatur geschüttelte Oktaven sind nie eine lärmende Zurschaustellung eines Pianisten, der zeigen will, dass er die Technik beherrscht – es gibt auch in solchen Passagen immer einen Aufbau, ein Ziel, eine musikalische Vorstellung. Und – das Unglaublichste an der Geschichte um diese Einspielung, aber sein früherer Student und späterer Professor am Moskauer Konservatorium Gleb Axelrod hat mir im Gespräch diese Geschichte bestätigt: Ginsburg hat das gesamte Stück ohne Unterbrechung im Aufnahmestudio durchgespielt und das Studio mit dem Kommentar an den Aufnahmeleiter «Könnt Ihr so nehmen!» verlassen, ohne sich die Aufnahme noch einmal anzuhören! Ginsburg war Schüler von Alexander Goldenweiser und einer der vielseitigsten und besten Vertreter der sogenannten Russischen Schule. Er spielte Liszt und virtuose Transkriptionen von Tausig oder Grünfeld genauso brillant und elegant wie Mozart oder – sehr selten von russischen Pianisten aus jener Zeit zu hören – die 3 Préludes von Gershwin oder Kammermusik gemeinsam mit dem Geiger Leonid Kogan.

Vladimir Selivokhin wäre zu nennen, der von allen Genannten auf jeden Fall die pedalärmste Variante auf den Plattenteller bringt – was keineswegs mit Trockenheit gleichzusetzen ist! Klug aufgebaut und mit sehr differenziertem Anschlag, das Duett Don Juan/Zerlina wunderbar an den Gesangsstimmen ausgerichtet und phrasiert (hier merkt man: Der Pianist, von Lev Oborin ausgebildet, kennt nicht nur Liszt, sondern auch Mozart!), in der Stretta die dreimalige Wiederholung der Champagnerthemas jedes Mal im Tempo steigernd – eine beeindruckende Interpretation! Leider hat er sich entschlossen, die Busoni-Fassung zu spielen, die im Unterschied zum Lisztschen Original immer wieder Haltepunkte in den Schlussteil einbringt, so dass der ganz große Schwung – den der Pianist durchaus entwickeln kann – dann am Schluss doch ein wenig abgebremst wird. Dennoch: höchst beeindruckend!

Der Reigen der Don-Juan-Spieler (die auf LP verewigt sind) schliesst sich mit dem bei Yakov Zak ausgebildeten Nikolai Petrov, der – ohnehin an „Virtuousenfutter“ sehr interessiert – dem technischen Aspekt dieser Pianistenprüfung nichts schuldig bleibt. Der Komtur hat nirgendwo sonst solch steinerne Wucht, die Terzenläufe perlen nie virtuoser, die vollgriffigen Akkordketten werden nie mit mehr Kraft in die Tastatur gemeisselt als in dieser 1987 entstandenen Aufnahme.

Von der jüngeren Generation wäre der bei Barbara Szczepanska ausgebildete Nikolai Tokarew, musikalisch, hochvirtuos, im Vergleich zu den anderen Interpreten gelegentlich etwas freier im Tempo. So spielt er die dritte Wiederholung des Champagner-Themas rasend schnell, um dann das Tempo sehr zu verlangsamen und am Schluss, wie aus dem Nichts auftauchend, die Akkorde eher zu buchstabieren als zu spielen, das Tempo so stark reduzierend, dass aller Schwung des dritten Teils verpufft ist und der ganze Don Juan stehen bleibt wie ein Auto mit Motorschaden. Insgesamt eine beeindruckende Aufnahme, wenn auch nicht an allen Stellen ganz schlüssig und mit einem aus meiner Sicht nicht gelungenen Schluss.

Die andere von Liszt einer Paraphrase für würdig befundene Mozart-Oper ist «Die Hochzeit des Figaro». Nicht ganz so vollgriffig und mächtig, etwas eleganter, aber nichtsdestotrotz mit den gleichen, Pianisten quälenden technischen Tücken wie Akkordketten, Terzenläufen, Übergriffen im schnellen Tempo etc. gespickt.

Wieder ist es Grigori Ginsburg mit seiner unerreichten clarté, seiner Eleganz und seiner unerhörten technischen Fähigkeiten, der das Interpretenfeld anführt – große Pianistik in jedem einzelnen Takt! Die Schlussstretta mit ihren gegeneinander springenden Terzen und Akkorden so zu spielen wie er – so, dass sie nicht nach Verzweiflung, sondern nach Selbstverständlichkeit klingt – das allein ist schon eine große Leistung!

Ihm dicht gefolgt ist der ebenfalls aus der Goldenweiser-Schule stammende Arnold Kaplan. Einen Hauch weniger Selbstverständlichkeit und Eleganz versprühend, aber dennoch höchst beeindruckend, ist er fast nur Freunden alter Melodiya-Schallplatten bekannt, die das Glück haben, eine LP mit seiner Interpretation zu besitzen.

Emil Gilels spielte dieses Werk als junger Mann und hinterließ eine Schallplatte mit seiner Version. Wer diese Aufnahme nicht kennt, weiß nicht, wie Gilels als junger Pianist gespielt hat. Er prescht durch die Höllenschwere in einem Tempo, das den Eindruck vermittelt, das Stück sei eigentlich viel zu leicht für ihn, vielleicht eine Art Einspielübung. Am Schluss scheint Figaro förmlich zu explodieren. Es raubt einem den Atem, allerdings wünschte man sich gelegentlich doch an der einen oder anderen Stelle einen stärkeren Bezug zum Gesangsoriginal, denn in der Raserei – die seinerzeit schon die Jury des Tschaikowksky-Wettbewerbs zum Staunen mit offenen Mündern veranlasst haben soll – bleibt schon das eine oder andere interpretatorische Komma auf der Strecke.

Last not least spielte Boris Bloch diese Fantasie für die DGG ein. Zügig, mit singendem, runden Klavierton und der Virtuosität nicht im Geringsten etwas schuldig bleibend, präsentiert er eine Einspielung fernab von jedem Extrem, eng am Mozartschen Original orientiert und mit mitreißendem Schwung. Leider springt er am Schluss direkt in die letzten Takte und bringt uns so um den Genuss der Sprünge in Gegenrichtung – aber ganz sicher nicht deshalb, weil er diese Stelle nicht spielen kann.

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