Auftrittsängste und ihre Begleiterscheinungen

Zwei Hypothesen erklären physiologische und kognitive Begleiterscheinungen von Lampenfieber.

SMM — Wenn von einer Person gesagt wird, sie müsse «leer schlucken», weist dies darauf hin, dass sie an-gespannt und in einer Situation möglicherweise überfordert ist. Im Deutschen wird das Phänomen bildhaft als «Kloss im Hals» bezeichnet. Solche Situationen kennen auch Musikerinnen und Musiker nur allzu gut, wenn sie sich auf der Bühne ausgestellt sehen und mit Erwar-tungen einer perfekten Darbietung konfrontiert sind. Die physiolo-gischen Begleiterscheinungen des Lampenfiebers sind mehr als deut-lich spürbar. Auch gut vorbereitete Profis können in solchen angstfördernden Momenten feststellen, wie ihre motorische Geschicklichkeit und ihre kognitive Wahrnehmungsfä-higkeit beeinträchtigt werden, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen könnten. Da erstaunt es, dass die Wissenschaft zur Zeit noch nicht in der Lage ist zu erklären, welchem Zusammenspiel physiologische Zustände und kognitive Einstellungen dabei folgen.

Die mit Fragen der Neuropsychologie beschäftigten Forschenden Shinichi Furuya, Reiko Ishimaru und Noriko Nagata vom japanischen Kwansei Gakuin Institute haben auf der Basis von Interviews mit 258 Pianistinnen und Pianisten acht verhaltensbezogene, psychologische und physiologische Faktoren identifiziert, die zum Phänomen beitragen. Zu ihnen gehört die von der Anwesenheit des Publikums abgelenkte Aufmerksamkeit, eine nicht mehr abrufbare Selbstverständlichkeit motorischer Abläufe, Wahrnehmungsstörungen (wie Tunnelblick), Neurotismen und Gedächtnisversagen.

Zwei Hypothesen zur Erklärung des Phänomens werden laut dem Team üblicherweise diskutiert. Die eine – nennen wir sie Ablenkungshypothese – erklärt die Leistungs-beeinträchtigung dadurch, dass sich unter Stress die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Aufgabe auf irrelevante Ereignisse richtet. Die zweite – die Hypothese der bewussten Überwachung – nimmt an, dass die Leistung beeinträchtigt wird, weil gut eingeübte Prozesse nicht mehr wie in entspannten Situa-tionen automatisch ablaufen, sondern angstbeladen wieder expliziter Kontrolle unterworfen werden. Das drängende Gefühl, in einer solchen Situation jetzt ja nicht zu versagen, führt dazu, dass die bewusste Steuerung von Bewegungsabläufen angestrebt wird.

Die Daten des japanischen Teams lassen darauf schliessen, dass hauptsächlich die Ablenkung die Reaktionen bestimmt. Das Team verschweigt aber nicht, dass andere Studien die Vermutung nahelegten, beide Phänomene spielten eine Rolle – sowohl die abgelenkte Fokussierung als auch das Bedürfnis, Bewegungsabläufe zu kontrollieren, die unter normalen Bedingungen im Flow ablaufen.

Hilfestellungen müssen für Betroffene individuell definiert werden. Zum Katalog möglicher Massnahmen gehören Verhaltenstherapien, das schriftliche Formulieren von Ängsten vor einer solchen Situation, Coaching oder Mentaltraining. Auch Übungen zur besseren Kontrolle der Muskelspannung können hilfreich sein. Beispielsweise lassen sich unökonomische Muskelbeanspruchungen etwa beim Klavierspiel mit dem Üben von unterschiedlich rhythmisierten Bewegungsfolgen reduzieren. So kann übermässiger Aufmerksamkeit entgegen gearbeitet werden, die zum Beispiel unnötige Muskelanspannungen mit sich bringt und damit die zeitliche Präzision beim Klavierspielen beeinträchtigt. Skeptisch zeigt sich das Team mit Blick auf eine medikamentöse Behandlung. So könne etwa die Einnahme von Betablockern das Risiko motorischen Fehlverhaltens sogar erhöhen – weil sie die Aktivitäten des Sympathikus dämpften.

Originalartikel

Shinichi Furuya, Reiko Ishimaru, Noriko Nagata: «Factors of choking under pressure in musicians», Plos One, Januar 2021, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0244082

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