«Eine kleine Zukunftsmusik»: I. Allegro vivace

Beeinflusst Musik (und Kunst) die Entwicklung unserer Gesellschaft oder ist sie vielmehr einfach ein Spiegel unserer Zeit? Die Antwort lautet wahrscheinlich: sowohl als auch.

Michael Bühler — Denn auf der einen Seite hat die Forschung1 im Bereich «Big Data» (wo also aus all den über uns gesammelten Daten Verhaltens-Korrelationen abgeleitet werden) jüngst festgestellt, dass heitere Musik indirekt den Aktienkurs beflügelt.

Als Ableitung davon ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen u.a. in der Ukraine zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis bewahrheitet, indem sich die Strömung der sog. «New Classics» mit ihrem filmmusikähnlichen Wohlklang, der Harmonie und der deutlichen Entschleunigung (als Gegenbewegung zu den experimentellen, teilweise schrillen und hektischen Klängen zeitgenössischer Klassik), positiv auf das Verhalten der Menschen überträgt und für Frieden sorgt.

Auf der anderen Seite übernehmen Komponisten, aber auch Künstler wie z.B. Ai Weiwei mit ihrem Schaffen heute die Aufgabe, für welche früher ein Hofnarr verantwortlich war: im Zentrum seines Wirkens stand nicht primär die Belustigung des Hofes, sondern kunstvolle Provokation und Irritation. Er konnte also als einziger dem König wahrheitsgetreu spiegeln, wie es dessen Volk wirklich geht, ohne dass ihm der Kopf abgeschlagen wurde.

Kunst und Musik sind also Spiegel unserer Gegenwart und prägen sie gleichsam.

Doch wie entwickelt sich unsere Gesellschaft in Zukunft und welche gesellschaftliche Funktion wird dabei die Musik haben?

Ganze Forschungsinstitute widmen sich ausschliesslich der Frage, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird. Anhand aktueller Daten werden mögliche oder wahrscheinliche Szenarien entwickelt, wie sich Wirtschaft, Politik und Gesellschaft entwickeln. Und die Musik?

Aus ökonomischer Sicht scheint dieser Sektor weltweit zu unbedeutend zu sein, sodass Musik nicht oder kaum bei der Entwicklung von Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung oder Silver Society berücksichtigt wird. Angesichts der Erkenntnis, dass Musik selbst den Börsenkurs beeinflusst, erscheint dieses Zukunftsbild aber unvollständig, wenn die Wirkung von Musik auf die Gesellschaft ignoriert wird.

Wagen wir in Ermangelung empirischer Daten ein kleines Experiment: Wie würden Sie für sich folgende Fragen beantworten:

Wird man, getrieben vom technologischen Fortschritt, als Konzertbesucher/in im Jahre 2040 nicht mehr im Konzertsaal sitzen, sondern sich in einen virtuellen Konzertsaal einloggen und es sich mit einem Glas Bio-Prosecco und einer (dann hoffentlich nicht mehr so klobigen) Öko-Strom-betriebenen, CO2-neutral hergestellten Fairtrade-VR-Brille auf dem Kopf während eines der regelmässig angeordneten Lockdowns in den eigenen vier Wänden gemütlich machen? Und erstellt man sich für die gesellschaftliche Interaktion während den Pausen zwischen den maximal 7minütigen «Musik-Häppchen» (denn dank der stark verkürzte Aufmerksamkeitsspanne ist es ja bereits heute vielen nicht mehr vergönnt, eine ganze Beethoven-Sinfonie zu bewältigen) wie im gleichnamigen Film einfach einen genderneutralen Avatar und unterhält sich live und in HD im virtuellen Foyer des Web 3.0 mit anderen Konzertbesuchern/innen über Gott und die Welt?

Reine Fiktion? Zugegeben, die Vorstellung mag provokant und fremd sein – aber ganz so unrealistisch scheint dies angesichts der laufenden Entwicklung gar nicht zu sein.

In der Konsequenz muss aber aus Sich von Universitäten und Hochschulen zwingend die Anschlussfrage gestellt werden, welche Skills und Wissen für künftige Generationen von Musikern/innen bereitgestellt werden muss und wie dieses Wissen adäquat vermittelt werden soll?

Wird ein emeritierter Profes-sor im Vorruhestand am Montag um 08:00 Uhr im Auditorium eine Vorlesung halten und den Studierenden Buch-Tipps abgeben? Wohl kaum.

Von der Vorstellung, von fixen Vorlesungszeiten, müssen wir uns ge-mäss der «New Work»-Entwicklung wohl schon bald verabschieden. Stattdessen stehen Online-Studien, Learning Landscapes oder Flipped Classrooms im Vordergrund.

Der Wissenstransfer verläuft je länger je mehr nicht mehr von alt zu jung, sondern umgekehrt. Denn die sog. Digital Natives, die in unse-re digitale und komplett vernetzte Welt hineingeboren wurden, setzen mit neuen Denkmustern neue Mass-stäbe. Und vergessen Sie gedruckte Bücher! Denn gerade die Digitalisierung entwickelt sich bereits heute so rasant, dass gedruckte Bücher schon völlig veraltet sind, bevor sie noch im Buchhandel im Regal stehen. Und gemäss dem Megatrend «Wissenskultur» wird dann noch viel weniger als heute «auf Vorrat» gelernt. Man lernt also keine Musikgeschichte mehr auswendig, sondern eignet sich im sog. Tutorial-Learning situativ (z.B. per YouTube-Video) lediglich das spezifische Wissen an, welches für eine bestimmte Herausforderung vonnöten ist.

Die Fragen und Herausforderungen in Bezug auf die gesellschaftliche Funktion von Musik in der Zukunft als auch des Musik-Business liegen also eigentlich offen auf dem Tisch. Deshalb geht es im Hier und Jetzt daran, Antworten zu suchen – und (möglichst bald) zu finden.

1. Harvard Business Manager, 3/2022

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