Codewort: Mutter Helvetia

Musiktheater spielt bis heute eine nicht zu unterschätzende Rolle für die symbolische Selbstdefinition europäischer Gesellschaften. Das SNF-Forschungsprojekt Opera mediatrix befasst sich mit den Besonderheiten des Schweizer Repertoires.

«Music is not a thing but an activity, something that people do.» So erklärte der amerikanische Musikologe und Komponist Christopher Small vor 25 Jahren die Bedeutung seiner Wortschöpfung Musicking. Diese gemeinschafts(ab)bildenden Dimension von Musik steht im Zentrum des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts Opera mediatrix. Es beschäftigt sich mit dem zeitgenössischen Musiktheater in der Schweiz. 

Akzent auf dem Kollektiv

Die Verknüpfung von Musicking mit Geschichten und szenischer Darstellung prädestiniert das Genre Musiktheater für die ästhetische Verschlüsselung von Wir-Identitäten. Ein Vergleich prägnanter einheimischer Produktionen scheint deshalb besonders geeignet, um landestypische Eigenarten herauszuarbeiten im Hinblick auf das Verhältnis von Musiktheater und kollektiver Identitätsbildung. Und tatsächlich hat das Projektteam der Hochschule der Künste Bern, bestehend aus Leo Dick, Katelyn King und Noémie Favennec einige konstante Muster in der hiesigen Gattungsgeschichte identifizieren können.

Entgegen den dramaturgischen Konventionen in der klassischen Oper rückt das Schweizer Musiktheater im 20. und 21. Jahrhundert nicht das handelnde Individuum, sondern das – zumeist passiv leidende – Kollektiv in den Fokus. Das Genre geht damit grundsätzlich konform mit ähnlichen Tendenzen in benachbarten Kunstdisziplinen. Doch während sich etwa in der Schweizer Literatur und bildenden Kunst eine kritische Tradition der unerbittlichen Analyse verfehlten Gemeinschaftshandelns etabliert hat, neigt das Musiktheater (wie übrigens auch der Schweizer Film) nach wie vor zur impliziten Idealisierung eines „einig Volk von Brüdern“ (und Schwestern). Damit beteiligt sich die Gattung unterschwellig an der Konstruktion eines harmonisierenden Selbstbildes der Schweiz, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts vonseiten einer politischen Elite unter dem Label der Helvetia mediatrix propagiert wird. Das gilt auch für Stücke von progressiven Musiktheatermacher*innen, die jeglicher reaktionärer Schweiztümelei unverdächtig sind.

Musiktheatrale Mutter-Kind-Symbiosen

Ob im musikalischen Theater von Christoph Marthaler oder Thom Luz, ob in Kammeropern von Mela Meierhans oder Helena Winkelman: Stets aufs Neue wird im hiesigen Repertoire das singende und musizierende Kollektiv auf die symbolische Suche nach einer verloren gegangen Mutter-Kind-Symbiose geschickt. 

An die Stelle von Schillers zukunftsgerichtetem Freiheitspathos beim Rütlischwur tritt dabei die verhaltene, melancholische Rückschau und Ursprungssehnsucht. Sinnbildlich hierfür steht in jüngerer Zeit etwa das Finale von Xavier Dayers Alzheim, in dem sich eine Gruppe von Demenzkranken kurz vor dem geistigen Wegdämmern noch an das Lied des Wehrliknaben aus der eigenen Kindheit erinnert. Anders als in der epischen und dramatischen Literatur des Landes, etwa in Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne oder in Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame, betritt demgegenüber kaum je die strafende oder grausame Mutter die Schweizer Musiktheaterbühne. Das metaphorische Feld bleibt innerhalb des Genres weitgehend der Beschwörung des Idealbilds einer schützenden und nährenden Mutter (Helvetia) überlassen.

Kunstforschung an der Schnittstelle zwischen kultureller und politischer Bildung

Das Forschungsprojekt ist einerseits als Beitrag zur Geschichtsschreibung in einem von der Musikwissenschaft immer noch vernachlässigten Repertoirefeld zu verstehen. Andererseits strebt das Forschungsteam auch an, Aufklärungsarbeit im Übergangsbereich zwischen kultureller, ästhetischer und politischer Bildung zu betreiben. Veröffentlichungen von vergleichenden Stückanalysen, etwa im Sammelband Musicking Collective, der in Kürze im Verlag Argus erscheinen wird, zielen darauf ab, narrative Kompetenz zu vermitteln. Damit ist in diesem Fall das Wissen darüber gemeint, auf welche Arten sich politische Narrative offen oder verdeckt in (musiktheatrale) Kunstwerke einschreiben. Idealerweise resultiert daraus eine Sensibilisierung für manipulative Mechanismen von politischem Storytelling in künstlerischer Verpackung. Wie jede Form von Theater ist schliesslich auch das Musiktheater wie geschaffen für eine spielerische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, mit Identitäts- und Sinnfragen.

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