Raus aus der Traviata-Falle

Im Vorfeld der Podiumsdiskussion an der Universität Bern zu Inklusion im (Musik-)Theater der Schweiz haben wir uns mit Christoph Brunner unterhalten.

Christoph Brunner ist verantwortlich für Inklusion und Chancengleichheit beim Theater Orchester Biel Solothurn und der Hochschule der Künste Bern.

Christoph Brunner, warum braucht es Ihre Positionen in Institutionen der Bildung und Kultur?
Zum einen haben wir als Kulturhaus oder Hochschule eine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen, um Teilhabe auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft zu ermöglichen und erweitern. Zweitens sind unsere Organisationen in vielen Aspekten überhaupt nicht divers aufgestellt. Die Studierenden an der Hochschule oder das Publikum beim Stadttheater sind kein repräsentatives Abbild der Gesellschaft. Um dies zu erreichen, müssen Barrieren abgebaut werden, und zwar nicht nur direkte, wie unzugängliche Gebäude, sondern auch die kulturellen Barrieren, die vielen Menschen das Gefühl vermitteln, an Veranstaltungen oder Kunstausbildungen nicht willkommen zu sein. Dazu benötigen wir eine grössere Beholfenheit im Umgang mit diesen Themen, die Herausbildung einer «artistic citizenship».

Mit welchen Formaten und Angeboten wird denn am TOBS experimentiert, um diesen Problemen zu begegnen und mehr Zugänglichkeit für alle zu schaffen?
Im Zentrum standen bisher Zugangshilfen wie Audiodeskription und Gebärdensprache. In den letzten zwei Jahren kamen Angebote in Einfacher Sprache und Relaxed Performances dazu. Diese sind meist kürzer, ohne vollständige Abdunklung und mit leicht offenen Türen. Damit ermöglichen sie auch Menschen einen Besuch, die beispielsweise empfindlich auf intensive Reize reagieren oder nicht überlange sitzen können. Es zeigte sich aber, dass diese Form ganz verschiedene Personengruppen anspricht, auch solche, die sich vielleicht nicht an eine dreistündige Opernaufführung trauen würden. Für sie kann ein kleines Kammerstück ein guter Einstieg in die Musiktheaterwelt sein.
Damit adressiert der Kulturbetrieb vor allem die Zugänglichkeit und weniger die Produktion als solche, die, wenn das Publikum nicht alle gewohnten Sinneskanäle wie Sehen oder Hören uneingeschränkt zur Verfügung hat, eine ganz andere sein könnte. Das wäre eigentlich eine interessante Frage: Wie könnte ein Musiktheater gedacht werden, das auf Ton oder Bild völlig verzichtet? Wie sieht ein Unisono im Ballett aus, wenn die Tänzerinnen nicht der körperlichen Norm der Opernhäuser-Ensembles entsprechen? Oder lässt sich eine Barockoper auch als Hip-Hop-Stück aufführen? Solches Hinterfragen von altbekannten Formen haben eine enorme soziale Sprengkraft. Sie passieren aber fast nie in den grossen Opern- oder Konzerthäusern, sondern allenfalls in der freien Szene.

Warum nicht?
Dafür gibt es meiner Meinung nach zwei Gründe, kombiniert nenne ich sie die «Traviata-Falle»: Einerseits sind da die standardisierten Erwartungen, durch die es schwierig ist, mit einem unkonventionellen Format 1000 Menschen ins Opernhaus zu locken. Um diesen standzuhalten, führt man lieber ein weiteres Mal La Traviata auf. Andererseits sind die Strukturen der Häuser ebenfalls standardisiert, mit viel Personal, das auf seine Anzahl Dienste kommen muss. Es ist diese Kombination aus standardisierten Erwartungen und standardisierten Strukturen, die formale und inhaltliche Innovation erschweren.

Bald führen wir eine Podiumsdiskussion zu diesen Themen durch. Sollten wir in Academia mehr über Inklusion im Musiktheater sprechen?
Ja, unbedingt! Ich wünsche mir von der Forschungscommunity dasselbe wie von den Veranstaltenden und Performenden: mehr Mut und Neugierde bei der Wahl der Themen und Arbeitsformen, so dass wir verstehen könnten, welche Rahmenbedingungen es für das Gelingen einer inklusiven Musiktheater-Praxis wirklich braucht.

Veranstaltungshinweis
Podiumsdiskussion über Inklusion im (Musik-)Theater im Rahmen der Veranstaltungsreihe MUSIKTHEATER – MACHT – GESELLSCHAFT, organisiert von der Professur für Musiktheater der Universität Bern, 17. Mai, 18:30 Uhr, Bibliothek Münstergasse, Bern. Mehr Informationen unter:    musik.unibe.ch/forschung/ musiktheater__macht__gesellschaft/index_ger.html

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