Ohne Klischees betrachtet

Der Komponist, Architekt und Ingenieur Iannis Xenakis (1922–2001) stand im Fokus eines internationalen Symposiums an der Zürcher Hochschule der Künste, das flankiert von vier Konzerten für einen klischeefreien Blick auf Xenakisʼ musikalisches Œuvre plädierte.

Iannis Xenakis: Studie für «Metastaseis» – 1954. Foto: flickr.com

Prasselndem Regen gleich durchdringen Schlag zwölf Uhr kraftvolle Trommelwirbel auch die hintersten Ritzen des weitverzweigten Toni-Areals. Sechs junge Perkussionisten, im Halbrund auf der weitläufigen Kaskadentreppe, dem zentralen Durchgangsort der Gebäude platziert, interpretieren mit sichtlicher Spielfreude Xenakis‘ Peaux aus Pléiades (1978) und ziehen auch in ihren Bann, wer nur zufällig vorbeikommt.

Die Rezeption von Xenakisʼ musikalischem Œuvre und seine Positionierung in der Neuen Musik unterlagen lange diversen Stereotypen. Spätestens seit der 1963 publizierten Abhandlung musiques formelles, in der er musikalische Strukturen in mathematischen Formeln zu fassen suchte, wurde es oft vorschnell im Hinblick auf Parallelen zwischen Musik und Mathematik betrachtet. Die Uraufführung von Metastaseis für 61 Instrumente brachte Xenakis 1955 in Donaueschingen den kompositorischen Durchbruch. Ausgangspunkt des Werks waren hyperbolische Kurven, die später auch dem mit Le Corbusier erstellten Philips-Pavillon der Brüsseler Weltausstellung zu Grunde lagen. Damit wurde eine weitere oberflächliche Sicht auf sein Schaffen zementiert, nämlich die Einheit von Architektur und Komposition.
 

Vorausnahme spartenübergreifender Tendenzen

Im Zentrum der Zürcher Tagung vom 23./24. Februar 2017 standen hingegen unterschiedlichste Perspektiven und die visionäre Vielfalt seiner Kompositionen. Diese spiegeln sich nicht zuletzt in sensuellen, visuellen und transmedialen Qualitäten, wie auch in Weltbezügen und assoziationsreichen Werktiteln. Anhand bislang unerforschter Skizzen zeigte in diesem Sinne Benoît Gibson (Evora) auf, wie Xenakis mehrstufig und spielerisch zu kompositorischen Entscheiden fand. Die oft auf formalisierte Aspekte reduzierte Deutung der Partituren steht dieser Prozesshaftigkeit diametral entgegen. Dass bei gängigen Xenakis-Bildern die von ihm selbst geschaffenen Weltbezüge zu wenig Beachtung fänden, betonte Jörn Peter Hiekel. An Metastaseis zeigte er auf, wie Xenakis beispielsweise erstmals den Begriff der Massen in die Musik einführte, indem er eigene biografische Erfahrungen der politischen Erschütterungen des zweiten Weltkriegs musikalisch verarbeitete.

Am legendären IBM 7090 erprobte Xenakis bereits in den Sechzigerjahren wegweisend die Möglichkeiten des Computers für kompositorische Prozesse. Seither gilt er den computerbasierten Komponisten als Vorreiter. Philippe Kocher sieht Xenakisʼ Pionierleistung hingegen nicht in mathematischer Formalisierung oder exakter Wiederholbarkeit, sondern in der frühen Hinwendung zu musikfremden Methoden.

Wie lassen sich dreidimensionale hyperbolische Kurven in traditionelle Notenschrift übertragen? Xenakisʼ grafische Partituren erzeugen durch vielschichtige visuelle Qualitäten einen offenen Deutungsraum. «Die Verknüpfung von räumlicher und musikalischer Vorstellung ist eigentlich ein transdisziplinäres Verfahren», stellte Lars Heusser in seinem Beitrag You have the good fortune of being an architect fest. Dass es bei der Übersetzung der Skizzen ins starre Korsett des klassischen Notensystems zu einer Verschiebung von Mehrdeutigkeit zu Eindeutigkeit komme, veranschaulichte Heusser bildstark an konkreten Partiturdetails.

Auch mit seinen transmedialen Werken nahm Xenakis Tendenzen heutigen spartenübergreifenden Kunstschaffens vorweg. Die Vision der Verschränkung von Klang, Raum und Licht zu kosmischen Dimensionen, ganz im Sinne der Raumfahrtseuphorie der Siebzigerjahre, setzte er in diversen Polytopes um. Als Dirigent am Mischpult leitete er raumfüllende Inszenierungen, die Ton- mit Licht- und Lasereffekten koppelten. Den spektakulären Höhepunkt bildete 1978 Le Diatope, mit der Aufführung von La Légende dʼEer, geste de lumière et de son, zur Eröffnung des Centre Pompidou. «Le Diatope ist nur mehr ein Mythos und lebt in lückenhaften Erzählungen von Gästen der Aufführung weiter», meinte Nicolas Buzzi und unternahm am Nachtkonzert den Versuch einer Annäherung. Die geplante multimediale Umsetzung konnte zwar nicht stattfinden. Umso mehr fesselte das Klangerlebnis: Zwölf Lautsprecher umgaben das frei im Saal verteilte Publikum und kreierten eine derartige Sogwirkung, dass sich fast eine multisensuelle Wahrnehmung einstellte.

Xenakis betonte immer wieder die Idee vom Musikwerk als lebendigem Organismus. Am Solistenkonzert hauchten Martina Schucan (Violoncello) und Ermis Theodorakis (Klavier) Schlüsselwerken wie Kottos für Cello solo (1977) und Herma für Klavier solo (1961) durch ihre virtuose Interpretation buchstäblich Leben ein.

Eine klischeehaft eingeengte Betrachtung von Xenakisʼ facettenreichem musikalischem Werk konnte an der Zürcher Tagung definitiv ad absurdum geführt werden.
 

La Légende dʼEer, geste de lumière et de son wurde 2005 von Mode Records auf DVD herausgebracht. Eine Rezension von Thomas Patteson mit vielen Bildern ist hier zu finden:

http://acousmata.com/post/536583109/the-legend-of-er

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