Wie im Teilchenbeschleuniger

Im Theater Basel läuft die Oper «Diodati. Unendlich» bis am 8. April. Die dauererregte Musik im Auftragswerk von Michael Wertmüller fordert alle Beteiligten aufs Höchste.

Statisterie des Theaters Basel, Holger Falk, Sara Hershkowitz, Seth Carico. Foto: Sandra Then

Der Abend startet von null auf hundert. Während Lucas Niggli am Schlagzeug einen durchgehenden Beat mit vertrackten Akzenten trommelt, singt der homofon geführte Chor des Theaters Basels (Leitung: Michael Clark) rhythmisch prägnante Linien. Hammond Orgel (Dominik Blum), Bass (Marino Pliakas) und E-Gitarre (Yaron Deutsch) werfen Akkorde ein, die wie Störfeuer wirken und die Grenzen sprengende Musik weiter anheizen. Für das Schweizer Trio Steamboat Switzerland hat Michael Wertmüller schon viele Stücke geschrieben und dabei die Grenzen zwischen Neuer Musik, Jazz und Rock aufgelöst. In seiner Oper Diodati. Unendlich (Libretto: Dea Loher), die das Theater Basel in Auftrag gegeben hat, ergänzt er die Formation mit einer E-Gitarre und platziert sie im Orchestergraben, damit sie gemeinsam mit dem extrem beweglichen Sinfonieorchester Basel diese rhythmische Energie auf die Bühne und in den Zuschauerraum schicken. Die Musik hat fast immer einen hohen Puls. Sie ist dauererregt, arbeitet mit der Schichtung von verschiedenen Metren und Rhythmen und führt die beteiligten Musiker technisch an die Grenze des Machbaren. Umso erstaunlicher, wie souverän Dirigent Titus Engel, der am Haus schon Karlheinz Stockhausens Donnerstag aus Licht unaufgeregt leitete, sich durch diese hochkomplexe Partitur bewegt. Und mit welcher Präzision alle Akteure diese wilden, rhythmisch verschachtelten Eruptionen zum Klingen bringen.

Hohe Reizdichte

Dea Lohers Libretto berichtet vom legendären Besuch englischer Literaten im Jahr 1816 in der Villa Diodati am Genfer See. Die illustre Runde um Lord Byron berauscht sich an Opium und an den Gesprächen. Wegen des schlechten Wetters bleiben sie im Haus, debattieren über künstliches Leben und erzählen sich Schauergeschichten. In der Schweizer Idylle entstehen in diesem Sommer Mary Shelleys Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus und die Kurzgeschichte Der Vampyr, geschrieben von Byrons Leibarzt John Polidori. Loher verschränkt in ihrem Text diesen historischen Schauplatz mit dem Cern im Kanton Genf, wo im 27 Kilometer langen Teilchenbeschleuniger physikalische Grundlagenforschung betrieben wird. In ihrer Inszenierung lässt Regisseurin Lydia Steier beide Ebenen sichtbar werden. Flurin Borg Madsen bringt am Theater Basel ein Labor auf die Bühne, in dessen Mitte ein Zimmer der historischen Villa Diodati nachgebaut ist. Hier fahren Wissenschaftler in Schutzanzügen zu den ersten Schlagzeugimpulsen die leblosen Literaten auf Sackkarren herein und reanimieren sie (Kostüme: Ursula Kudrna).

Eigentlich werden die Figuren aber durch Wertmüllers Musik zum Leben erweckt. Dabei arbeitet der Komponist mit schnellen Schnitten, die oft vom Schlagzeug geschärft werden. Die Pausen sind kurz, die Reizdichte ist hoch, alles passiert gleichzeitig! Einen grösseren Spannungsbogen baut der Schweizer Komponist aber nicht auf. Er setzt auf einzelne Bausteine, die für sich stehen und durchaus unterschiedlich gestaltet sind. Kristina Stanek singt als noch unverheiratete Mary Godwin in opernhaft gezogenen Linien von ihrem verstorbenen Kind; die von Lord Byron schwangere Claire Clairmont (bis in stratosphärische Höhen glasklar: Sara Hershkowitz) leckt zur hochgepeitschten Musik seinen Schritt, ehe Byron von den Wissenschaftlern ein blinkendes Gerät um die Hüfte geschnallt bekommt, das ihn zusätzlich stimuliert. Mal sorgt Michael Wertmüller mit Loops für Verdichtung, mal nimmt er für einen Moment das Tempo heraus, um kurz danach wieder einen neuen musikalischen Mix zu kreieren. Mit atemberaubender Geschwindigkeit folgt Szene auf Szene. Rolf Romei als Mary Godwins Freund Percy Bysshe-Shelley mit Mittelscheitel und Nickelbrille singt strahlende Spitzentöne dazu. Seth Carico ist mit seinem mächtigen Bassbariton ein markanter Leibarzt Polidori, der Lord Byron im zweiten Teil in Netzstrümpfen und High Heels seine Liebe erklärt.
 

Ekstatisches Empfinden

Im exquisiten Solistenensemble ist Holger Falk als anarchistischer Lebemann George Gordon Noel Lord Byron das Kraftzentrum. «Das grosse Ziel des Lebens ist Empfinden. Zu spüren, dass wir existieren», formuliert er im zweiten Teil, in einer der wenigen ruhigeren Szenen, sein Credo im Sprechgesang. Das sexuelle Verhältnis mit seiner Halbschwester Augusta Leigh (koloraturengeschärft: Samantha Gaul) zelebriert dieser Byron genauso selbstverständlich, wie er Orangen an seiner nackten Brust und in seinem Schritt reibt. Rausch und Ekstase als Kern des Lebens? Einzelne Puzzleteile entfalten in dieser ultrahocherhitzten Basler Vorstellung grosse Theatralik, wenn sich beispielsweise Schlagzeuger Lucas Niggli und Sara Hershkowitz als hochschwangere, in Wehen zuckende Claire Clairmont ein spektakuläres Schlagzeug-Koloratur-Battle liefern oder wenn das wiederbelebte Kind unter grossem Pathos als Engel mit dunklen Flügeln von Mary Godwins OP-Tisch aufersteht. Eine Verbindung zwischen all den Elementen, die wie im Teilchenbeschleuniger umherschiessen, gelingt an diesem Abend nicht. Aber vielleicht ist das auch zu konservativ gedacht für diesen herausfordernden, phasenweise auch überfordernden Musiktheaterabend.

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