Die Tochter der fernen Geliebten

Jüri Reinvere bringt in Regensburg mit der Oper «Minona» ein geheimnisumwittertes Kapitel in Beethovens Biografie auf die Bühne.

Nein, Beethoven als Person kommt in dieser Oper nicht vor. Auch seine Musik wird nur einmal erkennbar zitiert, wenn gegen Schluss, wie ein Kommentar aus dem Off, das Vokalquartett Mir ist so wunderbar aus Fidelio erklingt. Im Mittelpunkt steht aber Beethovens Tochter, und sie heisst Minona. Wie bitte, denkt sich da jeder musikhistorisch auch nur halbwegs Informierte, von einer Vaterschaft Beethovens ist doch in der Wissenschaft nirgendwo die Rede.

Doch möglich wäre es durchaus. Das ist jedenfalls die These von Jüri Reinvere, Autor der Oper Minona, die jetzt zum Auftakt des sogenannten Beethovenjahres im bayerischen Regensburg zur Uraufführung kam. Der 1971 in Estland geborene und seit einigen Jahren in Frankfurt am Main lebende Komponist hat vor dem Abfassen des Librettos akribische Recherchen angestellt, um seine Annahme und damit den Plot seiner Oper zu untermauern. Unter anderem fand er in seiner Heimatstadt Tallinn Dokumente, die einen tiefen Einblick in Minonas Familiengeschichte ermöglichen.

Die ominöse «ferne Geliebte»

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist jene geheimnisvolle Person, der Beethoven in seinem Liederzyklus An die ferne Geliebte von 1816 ein Denkmal setzte und die vermutlich mit der «unsterblichen Geliebten» identisch ist, an die er 1812 nach einem Kurzaufenthalt in Prag einen Brief adressierte, aber nie abschickte.

Hinter dieser Gestalt, deren Anonymität Beethoven sorgsam hütete, vermutet Reinvere – er stützt sich dabei vor allem auf die Untersuchungen des 1986 in der DDR verstorbenen Basler Beethovenforschers Harry Goldschmidt – die ungarische Gräfin Josephine von Brunsvik, verheiratete von Stackelberg; sie war Beethovens Klavierschülerin, und er fühlte sich nachweislich stark zu ihr hingezogen. In jenen Julitagen 1812, als Beethoven in Prag war, soll er sich heimlich mit ihr getroffen haben, lautet Reinveres These, und da soll es passiert sein. Doch es gibt nur Indizien, keine Beweise, dass Josephine zu diesem Zeitpunkt in Prag weilte. Wohl aber eine andere Frau, die Beethoven ebenfalls sehr nahestand: Antonie Brentano. Der biografische Nebel wird sich wohl nie ganz lichten.

Historische und künstlerische Wahrheit

Die historischen Recherchen sind das eine, die künstlerische Freiheit das andere. Reinvere, der gekonnt zwischen Realität und Fiktion balanciert, hat sich an die Variante Brunsvik gehalten und daraus ein ausgesprochen operntaugliches Libretto gemacht: Das mögliche Treffen zwischen Beethoven und Josephine in Prag hat Folgen, und die hören auf den Namen Minona.

Tatsächlich – und da kommt wieder Realität zum Zug – wurde das Mädchen genau neun Monate nach dem ominösen Prager Datum geboren und auf den Namen Minona von Stackelberg getauft. Josephine und ihr Ehemann Baron von Stackelberg befanden sich aber im Juli 1812 bereits in Scheidung und lebten getrennt – honi soit qui mal y pense. Die Gräfin von Goltz, der die verzweifelte Josephine von ihrem nicht standesgemässen Fehltritt erzählt, empfiehlt in der Oper das altbekannte Rezept: Auf, nach Wien, ins erkaltete Ehebett! Ein Kind von diesem verliebten Eigenbrötler Beethoven wäre der gesellschaftliche Ruin.

Zwei Väter und keine Identität

Diese Vorgeschichte wird in den ersten beiden Bildern der Oper erzählt. Der weitere Fortgang des Zweiakters beschreibt den Lebensweg der realen Minona. Sie wird nun zur Hauptfigur der Oper. Man sieht sie als junges Mädchen und als alte Frau, teilweise beides in Simultanszenen. Sie ist ein sogenannt schwieriger Charakter; wie ein weiblicher Kaspar Hauser ist sie lebenslang auf der Suche nach ihrer Identität, eine tragische Gestalt zwischen zwei Vätern. Der eine, der Kämpfer für hohe Ideale, zu dem sie sich unerklärlicherweise instinktiv hingezogen fühlt, ist nur in ihren Genen und ihrem Unterbewusstsein anwesend. Der andere, ein protestantischer Glaubensfanatiker und tyrannischer Erzieher, dominiert ihr reales Dasein mit physischer und psychischer Gewalt. Zwischen diesen beiden Polen geht sie zugrunde.

Gegen Schluss werden ihr als Erbin die Liebesbriefe Beethovens an ihre Mutter Josephine ausgehändigt. Nun fühlt sie ihre Ahnungen bestätigt und weiss, wer sie ist. Da erscheint die Figur der Leonore, eine Allegorie der idealen Liebe, und es entspinnt sich ein philosophisch grundierter Dialog über das wahre Wesen der Liebe. Minona erkennt, dass ihre Gefühle unter dem Druck der frömmlerischen Erziehung verkümmert sind und sie ihr Leben nie gelebt hat: «Mich hat es nie gegeben … Ich weiss nicht, woher ich komme, weiss nicht, wer mich gewollt hat.» Minona, rückwärts gelesen, heisst «anonym». Was bleibt, sind Hoffnungslosigkeit und Leere. Leicht benommen schleicht man sich aus dem Theater.

Leuchtender Orchesterklang

Der zwischen Stationendrama und geistreichem Konversationsstück angesiedelte Zweiakter verschränkt Zeiten und Schauplätze kunstvoll ineinander. Die ausgiebigen Dialogpartien sind mit grosser Sorgfalt ausgearbeitet; ein arioser Tonfall, der die Wortverständlichkeit nicht beeinträchtigt, herrscht vor. Getragen wird der Gesang durch den kraftvoll strömenden Orchesterklang. Er leuchtet in satten Farben, wirkt nie schwerfällig und lässt erstaunlicherweise die Singstimmen nie untergehen, sondern trägt sie. Mit einigen Orchesterkommentaren werden ausdrucksstarke Höhepunkte gesetzt, derjenige zu Beginn des letzten Bildes fügt dem zunehmend sich verdüsternden Geschehen eine apokalyptische Dimension hinzu. Der Schlussteil zieht sich in die Länge, doch insgesamt sorgt die musikalische Gestaltung sowohl in architektonischer Hinsicht als auch im Detail für Binnenspannung.

Auftritt der Reichsklaviergrossmutter

Die Inszenierung war nicht frei von Schwächen. An der Bühne von Marc Weeger lag es nicht. Mit einem geschickt den Raum strukturierenden Metallgerüst und der Drehbühnenmechanik schuf er die Voraussetzung für schnelle Szenenwechsel und aussagekräftige Dekors. Der Regisseur Hendrik Müller glaubte jedoch, das Stück mit allerlei an den Haaren herbeigezogenen Zutaten aufmöbeln zu müssen. Zu Beginn geistert die Reichsklaviergrossmutter Elly Ney mit weihevollen Gebärden durch die Szene, womit Beethovens Musik gleich unter Naziverdacht gestellt wird – heute ein beliebtes Mittel sich fortschrittlich gebärdender Kulturkritik.

Im Stackelberg-Bild wird dem bigotten Protestantenmilieu mit einem kleinen Exorzismus nachgeholfen, und Beethovens Figur der Leonore erscheint am Schluss als bösartige Ärztin im weissen Kittel, die der Minona Tabletten zum Suizid verabreicht und im Vorbeigehen noch rasch die diebischen Dienstboten erschiesst. Natürlich mit Schalldämpferpistolen, wie bei den Mafiosi. Kreative Selbstverwirklichung in Ehren, aber bitte auf der Experimentierbühne und nicht bei der Uraufführung einer abendfüllenden Oper, wo es darauf ankäme, erst einmal das Werk in seinen Umrissen deutlich zu machen und nicht gleich zu dekonstruieren.

Weitere Aufführungen im Theater Regensburg bis am 30. Mai 2020

Das könnte Sie auch interessieren