Improvisieren und installieren, beschallen und bewandern

Zürich hat mit «Sonic Matter» ein internationales Festival für experimentelle Musik ins Leben gerufen. Hintergründe und Bericht über die Durchführung des ersten Wochenendes.

Die 1986 von den beiden Schweizer Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag in Eigeninitiative gegründeten, von diversen Nachfolgern weitergeführte und schliesslich von der Kulturabteilung der Stadtregierung übernommenen «Tage für Neue Musik» waren ein auf die internationale zeitgenössische Avantgarde-Musik ausgerichtetes Festival. Nachdem bereits seit 2012 die lokale Beamtenschaft die Verantwortung für die Finanzierung, die Öffentlichkeitsarbeit und die Organisation des Festivals übernommen hatte, dagegen die von ihr berufenen Kuratoren jährlich wechselten, gingen dem Festival schliesslich immer mehr die Ideen aus. 2018 drohte die Stadtpräsidentin zudem, den Finanzhahn abzudrehen.

Als aber 2019 die gelernte Musikpädagogin Diana Lehnert städtische E-Musikverantwortliche wurde, fasste sie eine erneute Ausrichtung des Festivals ins Auge. Allerdings sollte dies – verständlicherweise – inhaltlich und formal eine Neupositionierung beinhalten. Für den Probebetrieb von drei Jahren stellte die Stadt einen ansehnlichen Betrag von gegen einer Million Franken in Aussicht. Ausserdem sicherte das staatlich gut alimentierte Tonhalle-Orchester Zürich seine jährliche unentgeltliche Beteiligung in Form eines eigenen Konzertes zu. Zum Paket würde auch der ansonsten für Dritte exorbitant teure Konzertsaal gehören. Ausserdem wurde beschlossen, dass die Stadt die Trägerschaft abgebe, berichtet Lehnert. Mit dem Auftrag, eine künftige Leitung zu finden, berief sie in Absprache mit der Kulturdirektion den bisherigen künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage und seit diesem Jahr Sekretär des Kuratoriums der Münchner Ernst-von-Siemens-Musikstiftung, Björn Gottstein, die Performerin und Dozentin an der Hochschule der Künste Bern, Cathy van Eck, die Oboistin und Musikvermittlerin Catherine Milliken sowie den Kontrabassisten und Leiter von «Sonic Space Basel» der dortigen Musikhochschule, Uli Fussenegger – schwergewichtige Ausübende und Fürsprecherinnen des experimentellen Schaffens.

Neue Leitung, geplante Ausrichtung

Als weltweite Blaupause und Auffangbecken aller Arten performativer Klangkunst darf mit Fug und Recht das Berliner Festival MaerzMusik bezeichnet werden. So verkündet das «Festival für Zeitfragen» mit dementsprechendem Selbstbewusstsein auf seiner Webseite burschikos, es verstehe sich als Ort für künstlerische Erfahrungen, für Begegnungen und das gemeinsame Nachdenken über unseren Umgang mit Zeit. Und weiter: Entwickelt aus der Perspektive des Hörens und getragen von der Musik der Gegenwart, öffne das Festival mit Konzerten, Performances, Installationen, Filmpräsentationen und Diskursformaten einen Raum, in dem Leben, Kunst und Theorie konvergieren könnten.

Nach einer zweistufigen Bewerbungsrunde wurde in Zürich schliesslich einem Kollektiv, bestehend aus der Zürcher Komponistin Katharina Rosenberger, der Walliser Choreografin Julie Beauvais und der Berliner Ensemblemanagerin Lisa Nolte, die Durchführung des neuen Festivals anvertraut. Unter dem Namen «Sonic Matter», auf Deutsch Schallmaterial, wurde ein Konzept honoriert, das einen ganzen Strauss an unterschiedlichsten Unternehmungen vereinen möchte. Zum einen will es eine Plattform für spartenübergreifende Experimente schaffen, zum anderen sich künstlerisch der Interdisziplinarität öffnen und sich bei der Kuratierung der Diversität in der Geschlechterausrichtung und der Nachhaltigkeit verpflichten. Auch will die neue Leitung ihre internationalen Angebote nicht nur am verlängerten Festival-Wochenende präsentieren, sondern über einen betreuten Webstream rund um das Jahr, um einerseits mit dem Publikum im Kontakt zu bleiben und andererseits Raum zu bieten für akute Fragestellungen der Gegenwart. Zudem ist geplant, jedes Jahr ein anderes Festival mit Exponenten und Beispielen einzuladen, um über die eigenen Ränder hinauszuhören. 2021 war es das «Novas Frequências» aus Rio de Janeiro.

Mit Videosequenzen und Noise-Music

In einem Potpourri an Ereignissen wurden am ersten Dezemberwochenende verschiedene instrumentelle, musiktheatralische, performative, installative, multimediale und partizipative Produktionen aufgeführt. Dabei sollten nord- und südamerikanische Produktionen einen Programmschwerpunkt bilden. So bot sich in einer stets geöffneten Audio- und Videolounge die Möglichkeit, brasilianische elektroakustische Arbeiten zu hören, die beim Gastfestival Novas Frequências aufgeführt wurden.

Die erste Festivalausgabe wurde unter das Thema «Turn» gestellt. Wie in Berlin, wo die Festivalveranstalter auf ihren Programmseiten explizit darauf hinweisen, ob es sich bei einer Aufführung um komponierte, improvisierte Musik oder sogar um etwas total anderes handle, verweisen die Sonic-Matter-Gestalterinnen auf ihrem Programmblatt bei den Konzerteinträgen darauf, für wen sich eine Aufführung eigne, wie etwa «für Menschen ab fünf Jahren, die gut zu Fuss» seien oder «Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen». Vor dem eigentlichen Opening Concert, man liebt es Englisch, fand im Migros-Museum für Gegenwartskunst die «für Menschen ab zehn Jahren» empfohlene Konzertinstallation White Line mit dem in Zürich domizilierten E-Gitarristen Samuel Toro Pérez statt. Auf drei Leinwänden liessen sich flimmernde Videobilder der US-amerikanischen Künstlerin Marina Rosenfeld von einer Hand erkennen, die mitunter eine Zigarette einem Mund zuführte. Immer wieder erschienen darüber weisse Linien. Die Sequenzen dienten gleichzeitig als Partitur für den Gitarristen, der ein längeres Exerzitium in Sachen Noise-Music absolvierte. Danach folgte in den Lagerräumen einer Off-Galerie eine Performance mit dem improvisierenden französischen Bratschisten Franz Loriot, der «kritischen Zuhörern» nicht enden wollende Flageolettkaskaden virtuos um die Ohren schlug.

Komposition und Improvisation ohne Kluft

In der amphitheatermässig aufgebauten Schiffbau-Box des Schauspielhauses erklang unter dem Titel Connectivity für «alle, die gern 90 Minuten sitzen, schauen und lauschen» ein spannendes Eröffnungskonzert. Die Mitglieder des International Contemporary Ensemble (ICE) aus New York und Chicago bewiesen eindrücklich, dass Improvisation allerhöchsten musikalischen Ansprüchen genügen kann und es künstlerisch keine antithetischen Positionen mehr geben muss zwischen dem Komponieren und dem Improvisieren. Als John Cage und seine US-amerikanischen Mitstreiter die europäische Musik-Avantgarde vor über 70 Jahren damit konfrontierten, schien die Kluft bis vor kurzem unüberwindbar. Unversöhnlich standen sich die Ideologien gegenüber, die Zeit durch strikte Organisation bewältigen respektive sich auf die Eigenzeit der Klänge fokussieren zu wollen. Die mit allerhöchster Meisterschaft wiedergegebenen Stücke Thistledow für Klaviertrio und Schlagzeug und das situative Creative Construction SetTM für offene Form und Besetzung des legendären Improvisationsgrossmeisters George E. Lewis sowie Nicole Mitchells Cult of Electromagnetic Connectivity für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Violine und Cello belegten das Gegenteil. Der Graben gehört der Vergangenheit an, sofern wie hier Musiker in der Lage sind, formal und inhaltlich etwas völlig Neues zu befördern. Dazu gehörte auch die Aufführung des multimedialen und mehrteiligen I See You der 1984 geborenen spanischen Komponistin Helga Arias. Ein Streichquartett mit Videoprojektionen, ein hochmusikalisches Stück. Die Furrer-Schülerin war Composer in Residence 2021 des ICE, konnte jedoch bei der Entwicklung ihres Auftragswerkes aufgrund der Pandemie nie vor Ort sein, um mit den Musikern Details zu erarbeiten. Derzeit ist sie daran, ihre Erfahrungen mit der Kommunikation auf Distanz in einer Dissertation unter dem Titel Komposition der Politik des musikalischen Schaffens: ein Vorschlag zu alternativen Arbeitsinteraktionen für die Anton-Bruckner-Universität in Linz zu verarbeiten. Die gelernte Musikpädagogin und Komponistin lebt übrigens derzeit in Samedan, wo sie an der Academia Engiadina unterrichtet.

Im Kopfhörer und im grossen Saal

Dagegen dürfte die Performance Ear Action der Berliner Komponisten Neo Hülcker und Stellan Veloce selbst für Fünfjährige, wie empfohlen, allzu unterkomplex gewesen sein. Akteure waren die Musiker Philip Bartels, Simone Keller, Moritz Mühlenbach und Lara Stanic. Die Zuhörenden hatten in einer Reihe in einem abgedunkelten Saal einer Wand zugekehrt zu sitzen. Sobald allen ein Hörschutz angelegt war, begannen die Performer daran mit diversen Gegenständen wie etwa einem Geigenbogen zu reiben – analoge Musique concrète sozusagen mit den Mitteln der arte povera.

Anschliessend löste im grossen Saal das Tonhalle-Orchester unter der Leitung von Pierre-André Valade sein Versprechen ein. Sein Extra-Konzert begann mit dem für grosse Besetzung geschriebenen, 2010 in Luzern uraufgeführten TURN für Orchester des derzeit omnipräsenten Dieter Ammann, das der Festivalerstausgabe seinen Namen lieh. «Turn» heisst Wendepunkt und meint Gegensatz und Perspektivenwechsel wie er nach etwa zwei Dritteln des Stücks vollzogen wird. Nach vielen Arpeggien und Akkorden im Boulez-Stil und mit einem stetigen Grundimpuls kommt das Stück unerwartet fast zum Erliegen. Das Rhythmische wird plötzlich zurückgebunden, so dass TURN in disparate Teile zu zerfallen droht. Auch die 1980 in Deutschland geborene Sarah Nemtsov, Urheberin des ebenfalls gross besetzten dropped.drowned aus dem Jahre 2017, wird derzeit allerorten gespielt. Alles ist «gut gemacht»: Grossflächige Texturen entwickeln sich hier ausgehend vom nicht-solistischen, präparierten Klavier und einer ebenfalls präparierten verstärkten Harfe. Dies wird alsdann von den Streichern und dem Schlagwerk gespiegelt, worauf auch Bläser folgen. Eclair des Franzosen Eric Montalbetti wurde auf Anregung seines Landsmannes, des Dirigenten in Zürich, aufgeführt. Montalbetti war bis 2014 während 18 Jahren primär als künstlerischer Leiter des Orchestre philharmonique de Radio France tätig, bevor er sich mit seinen Kompositionen an die Öffentlichkeit wagte. Auch er setzt auf grossflächige Texturen, die allerdings im Gegensatz zu Nemtsov bei ihm fast nicht vom Fleck kommen und die Hörenden dramaturgisch nicht mehr als langweilen.

Von der Kaverne bis in die Kaserne

Auch die Installation Unter der Klopstockwiese verlangte nach einem unerschütterlichen Beharrungsvermögen. Sie wäre, so steht es im Programmblatt, für alle geeignet, die gern unterirdische Räume auskundschaften. So poetisierend der Park über der Kaverne heisst, umso banaler ist das schon längst abgetragene Dieselwerk darunter. Der verbliebene leere Raum wurde einfach tel quel verstärkt und fertig war eine als Klangparcours deklarierte Installation. Dass der Zürcher Kaspar König überhaupt den Mumm aufbrachte, Festivalbesucher dorthin zu locken, ist mehr ein dreistes denn ein trauriges Stück. Für «Menschen ab fünf Jahren, die gut zu Fuss sind, auch für solche mit eingeschränktem Hörvermögen» gab es einen kurzen Ausflug, um das akustisch stark verschmutzte Limmattal zu erleben. Dies, so der Zürcher Klangkünstler Andres Bosshard, gelinge am besten an den Talhängen und am Flussraum.

Am darauffolgenden Tag improvisierte für «alle mit 150 Minuten Sitz-, Tummel-, Stehvermögen» das in Zürich verortete zwölfköpfige Madness Ensemble frei auf. Es veranstaltete auf der Bühne des Kunstraums Walcheturm einen sogenannten Workoutjazz-Marathon. Die «indeterminierte Meta-Komposition» entwickelte sich entlang des Pegelbereichs eines startenden Düsenjets bei knapp unter 100 dB, wobei den meisten Zuhörenden kaum eine reale Chance geboten wurde, das Aufeinandertreffen von Neuer Musik und Improvisation, von visueller Kunst und Performance, wie versprochen differenziert wahrzunehmen.

Im heutigen Tanzsaal der Alten Kaserne führte das Genfer Ensemble Batida mit Diĝita, was auf Esperanto digital heisst, für «alle ab zehn Jahren» eine minimalistische Hommage auf die digitale Welt auf. Vier mit Synthesizern und Samplern ausgestattete Musiker und ein Klangregisseur befanden sich abgeschirmt innerhalb eines Kubus aus Leinwänden. Darauf wurden Grafiken mit abstrakten Landschaften in Schwarz-Weiss des Zeichnerkollektivs Hécatombe projiziert. Mit Glenn wurde im «border line club culture» das Festivalfinale zwischen 20.30 und 22.00 Uhr gefeiert. Es war für «für Menschen ab zwölf Jahren gedacht, die gern tanzen». Die beiden Urheber Nicolas Kort und Ricardo Eizirik setzen auf «Industrial und dark electronic» und versprachen, dass ihr Konzert laut sein würde. Es war sehr, sehr laut.

Ausblick

Bereits stehen auch die weiteren beiden Festivaltitel fest. Auf «Turn» folgen «Rise» (Aufstieg) und «Leap» (Sprung). Beides ist dem Leitungskollektiv sehr zu wünschen. Es wäre dringend angebracht, dass sich zwecks Steigerung der Qualität und Aktualität die Intendanz der Tonhalle aus der Programmierung heraushielte und das ebenfalls gut von der Stadt finanzierte, auf Neue Musik spezialisierte Collegium Novum bei den nächsten Folgen nicht durch Abwesenheit wegen der Beteiligung bei einem Nachwuchswettbewerb glänzte, sondern ohne Wenn und Aber partizipieren würde.

Um die Vorlieben und Reaktionen des Publikums sowie Einschätzungen zu Diversität und Inklusion zu erfassen, führen Marktforscher von Econcept im Auftrag der Stadt Zürich Umfragen zu «Sonic Matter» 2021 durch. Es bleibt zu hoffen, dass im Sinn eines erfolgreichen Standortmarketings danach die städtischen Behörden nicht wie im Fall der Bührle-Stiftung falsche Schlüsse ziehen … Klar werfen eine Auslastung von insgesamt 973 Besucherinnen und Besuchern für alle Live-Veranstaltungen die Frage auf: Bleibt ein von der Stadt geleisteter Aufwand von drei Viertelmillionen Franken für drei Ausgaben auch weiterhin der avancierten Musik zur Verfügung, wenn dereinst einmal in ferner Zukunft «Sonic Matter» den Geist aufgibt, oder wird es dann ganz der U-Musik mit dem Argument zugeschlagen, auch diese könne experimentell sein?

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Der Publizist und Musikkritiker Peter Révai bewarb sich bei der Präsidialabteilung auf die Festival-Ausschreibung. Seine am Pfingstmontag vorletzten Jahres per E-Mail eingegebenen Unterlagen wurden mit dem Argument abgelehnt, dass der Abgabetermin am Pfingstsonntag gewesen sei.

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