Serbiens Musikleben unter Druck
Seit November 2024 wird gegen die Regierung von Aleksandar Vučić protestiert. Die wöchentlichen, manchmal täglichen Proteste sind ungebrochen, die Situation ist für das Kulturleben des Balkanlandes verheerend.

Die aktuelle Nachrichtenflut aus den USA ist so überwältigend, dass sie fast alles andere überlagert. Angesichts des jetzigen Zollkriegs ist selbst der Krieg in der Ukraine in den Hintergrund getreten. Daher ist es verständlich, dass auch die politischen Ereignisse in Serbien verhältnismässig wenig Beachtung finden. Die westlichen Medien berichteten zwar über den Tod mehrerer Menschen beim Einsturz des renovierten Bahnhofs in Novi Sad im vergangenen November, der zu massiven Protesten gegen Korruption in der Regierung führte. Danach verschwand Serbien aber von den Titelseiten und tauchte nur gelegentlich wieder auf, beispielsweise als der Premierminister Anfang des Jahres zurücktrat oder als die Regierung bei einer Massenprotestkundgebung in Belgrad am 15. März angeblich eine Art «Schallkanone» (so bezeichnet von der NZZ) gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Die Proteste laufen aber unentwegt weiter und wirken sich jetzt auch verheerend auf das kulturelle Leben des Landes aus.
Proteste an den Hochschulen …
Tatsächlich waren es Studierende der Faculty of Dramatic Arts in Belgrad, die den Stein ins Rollen brachten nach den Protesten in Novi Sad. Als sie vor ihrer Fakultät protestierten, wurden sie von Provokateuren angegriffen. Daraufhin begannen die Studentinnen und Studenten eine Blockade ihrer Gebäude, die sich bald auf alle Hochschuleinrichtungen ausweitete, einschliesslich der Faculty of Music in Belgrad. An den meisten Instituten gab es seitdem weder Unterricht noch Prüfungen; das akademische Jahr muss möglicherweise ganz annulliert werden. Um zu verhindern, dass Einzelne ins Visier genommen werden, trifft die Vollversammlung der Studierenden gemeinsam mittels direkter Demokratie Entscheidungen über die Blockaden und Proteste.
… Theatern und Orchestern
Mitglieder der Belgrader Philharmonie schlossen sich schon früh den Strassenprotesten an, aber ein Auto fuhr in sie hinein und brachte vier von ihnen ins Krankenhaus. (Die neuesten Nachrichten aus Belgrad besagen, dass drei von ihnen inzwischen wieder genesen sind, während der vierte sich noch von seinen Verletzungen erholt.)
Anfang März, vor den Protesten vom 15., als über eine Viertelmillion Menschen auf den Strassen Belgrads demonstrierten, streikten auch die Theater und Orchester. Neben der aktuellen politischen Malaise beklagen Künstler auch unzureichende Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung. Die Belgrader Philharmoniker arbeiten seit über drei Jahren unter Interimsmanagement, und nach eigenen Angaben verdienen ihre Mitglieder etwa 660 Euro im Monat, was unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Nach meinem jüngsten Besuch in Belgrader Supermärkten zu urteilen, sind zwar Backwaren immer noch relativ billig, aber Grundnahrungsmittel wie Kaffee und Milch kosten jetzt so viel wie in der Schweiz. Laut meinen Kontakten sind Familien oft darauf angewiesen, dass ihre Verwandten auf dem Land günstige Lebensmittel liefern.
Staatliche Erpressung
Die Forderungen der Streikenden wurden nicht erfüllt, aber die Musiker Serbiens sind inzwischen aus purer wirtschaftlicher Not an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Die finanzielle Lage verschlechtert sich jedoch weiter. Die Dozenten der Universität der Künste in Belgrad können ihre Gebäude wegen der Blockade nicht betreten, meine Gespräche vor Ort lassen aber keinen Zweifel daran, dass die meisten von ihnen sich mit den Studenten solidarisch fühlen. Aber auch das wissen die Behörden und haben die Gehälter entsprechend gekürzt. Der Gehaltsscheck im März betrug für einige Professoren der Music Faculty 230 Dinar – etwa zwei Euro, genug, um zwei Liter Milch zu kaufen.
Die Pattsituation hält an. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Berichts hat Präsident Vučić soeben eine neue Regierung eingesetzt – aber die Proteste gehen weiter. Wie überall auf der Welt machen Fake News die Lage noch schlimmer. So sind beispielsweise seltsame Websites zweifelhafter Herkunft aufgetaucht, die Akademiker und andere Demonstranten als «Öko-Terroristen» bezeichnen. Jeden Abend um 19.30 Uhr hupen Autos in Belgrad – eine Form des Protests, die, wie ich höre, in die Milošević-Ära zurückreicht. Und auf dem Platz der Republik vor dem Nationaltheater finden weiterhin regelmässig nächtliche Proteste statt.
Ausbildungsnotstand in einem musikbegeisterten Land
Die langfristigen Folgen all dessen können verheerend sein. Die Music Faculty der Universität der Künste – immer noch blockiert – ist für das Musikleben Serbiens von entscheidender Bedeutung. Laut ihrer Website sind «mehr als 90 Prozent der Mitglieder aller grossen Ensembles im Land» ihre Absolventen. Das kann ich gut glauben. Ein paar Tage nachdem ich einen Protest von Gymnasiasten und ihren Eltern gegen die Regierung auf dem Platz der Republik beobachtet hatte, besuchte ich eine Aufführung von Tosca im gegenüberliegenden Nationaltheater, bei der fast alle auf der Besetzungsliste in Belgrad studiert hatten (und vermutlich auch die meisten Orchestermitglieder). Der Streik der Künstler hat die Musikbegeisterung des lokalen Publikums nicht getrübt. Tosca wurde vor ausverkauftem Haus aufgeführt, und selbst ein weniger populäres Repertoire kann die Massen anlocken. Ein Konzert des Jazzkomponisten Giovanni Di Domenico im Radio Belgrad nur wenige Tage zuvor war ebenfalls ausverkauft, mehrere Interessierte mussten wegen Platzmangel abgewiesen werden.
Die kulturelle Bedeutung Serbiens ist weitaus grösser, als man es von einem wirtschaftlich angeschlagenen Land mit knapp über sechs Millionen Einwohnern erwarten würde. Man muss nur ein paar Konzert- oder Opernprogramme hier in Zentraleuropa durchsehen, um zu realisieren, wie viele Sängerinnen und Instrumentalisten serbischer Herkunft sind. Aber ein Land, dessen Universitäten nicht funktionieren, hat keine Zukunft. Die Begabtesten der jüngeren Generation – diejenigen, die es sich leisten können – suchen nun im Ausland nach Möglichkeiten für ihr Studium. Das sind schlechte Nachrichten für die Zukunft der serbischen Musikinstitutionen.