Musikalische Grundbildung: vernachlässigt und verschleppt

Seit 10 Jahren sind Bund und Kantone verfassungsgemäss verpflichtet, die musikalische Bildung der Jugend zu fördern. BV 67a ist international einzigartig, doch weit davon entfernt, erfüllt zu sein.

Am 23. September 2012 gelang der Initiative «Jugend und Musik» ein fast historisch zu nennender Erfolg: 73 Prozent der Stimmenden legten ein Ja in die Urne und sämtliche Stände sagten ebenfalls Ja. Damit hat sich unser Land dazu verpflichtet, sich um das Bildungsgut Musik in besonderem Masse zu kümmern. Das Hochschulinstitut IVP NMS Bern hat zusammen mit Bildung Bern (Berufsverband der Lehrpersonen) und dem Verband Bernischer Musikschulen VBMS am 3. September den Versuch einer Zwischenbilanz gewagt – ja, eine Zwischenbilanz nach 10 Jahren, denn die Umsetzung des Verfassungsartikels 67a «Musikalische Bildung» ist noch nicht abgeschlossen. Absatz 1 (Förderung der musikalischen Bildung von Kindern und Jugendlichen) wurde mit dem Breitenförderungsangebot «Jugend und Musik» abgedeckt, und zur Umsetzung von Absatz 3 (Zugang zum Musizieren und Begabtenförderung) wird gerade die sogenannte «Talent Card» entwickelt. Von den über dreissig Umsetzungsmassnahmen, die damals von der Arbeitsgruppe vorgeschlagen wurden, sind ganze zwei herausgepickt worden. – Die damaligen Initianten mussten schmerzlich erfahren, dass die Politik kein Wunschkonzert ist.

Die Krux mit der kantonalen Hoheit

Absatz 1 und 3 liegen in der Kompetenz des Bundes und wurden deshalb als erstes angepackt. Was den Absatz 2 (hochwertiger Musikunterricht an Schulen) betrifft, sind wir nach 10 Jahren noch nicht viel weiter. Der Gesetzestext stösst beim Prinzip der kantonalen Bildungshoheit schnell an Grenzen und daher wird das Thema seit 10 Jahren wie eine heisse Kartoffel zwischen den Kantonen und dem Bund hin und her geschoben.

An der Volksschule gibt es selbstverständlich guten Musikunterricht – aber ist er «hochwertig», wie es der Gesetzestext vorschreibt? Tendenziell zeigt die Entwicklung eher in die Gegenrichtung. Die Zahl der effektiv gehaltenen Musikstunden ist schweizweit rückläufig. Zu dieser Entwicklung tragen der Lehrplan 21 mit der stärkeren Gewichtung anderer Fächer, die Abwählbarkeit des Faches Musik an den pädagogischen Hochschulen (PH), der gegenwärtige Lehrpersonenmangel und die damit verbundene mangelhafte musikalische Kompetenz vieler Lehrpersonen bei.

Die Referentin der Fachtagung «Hochwertiger Musikunterricht an Schulen», Letizia Ineichen, ist Fachdidaktikerin und Verfasserin einer Dissertation zur Bedeutung des Verfassungsartikels 67a Abs. 2 für die musikalische Bildung in der Grundförderung. Sie präsentierte eine Analyse der Wochenstundentafel aus dem Schuljahr 2019/2020: Die Anzahl der Musikstunden schwankt je nach Kanton stark. Am meisten Musik wird im Kanton Schaffhausen unterrichtet: drei 45-Minuten-Lektionen in den Klassen 1 und 2, zwei in den Klassen 3 bis 6. Am anderen Ende der Skala liegen Zug und Appenzell Innerrhoden mit durchgehend nur einer Lektion. In einer zweiten Analyse stellte Ineichen die Ausbildungsprogramme der PHs Bern, FHNW, Luzern, St. Gallen und Zürich einander gegenüber. Ausser an der PH St. Gallen (hier werden alle Fächer studiert) gilt das «Mehrfachprofil», das heisst, 2 von 9 Fächern können abgewählt werden. Musik ist eines davon. Studierende, die am Gymnasium einen guten Musikunterricht bekamen, wählen an der PH eher das Fach Musik. «Die musikalische Ausbildung der Primarlehrpersonen fängt am Gymnasium an», betonte Mark Grundler, ehemaliger Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern und Volksschulleiter, stellte jedoch fest: «Wir haben leider immer mehr musikalische Analphabeten unter den Bewerbern.»

Verbesserte Ausbildung und Zusammenarbeit

«Es ist zu viel Zeit vergangen, ohne dass sich etwas Wesentliches verändert hätte», sagt Letizia Ineichen und schlägt eine Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten vor: «Hochwertiger Musikunterricht impliziert Qualität und fachliche Kompetenz der Lehrpersonen. Fachliche, fachdidaktische und musikalisch-instrumentale Kompetenzen bilden eine bedeutende Bedingung für das Gelingen.» Dies sei nur durch eine gute Ausbildung zu erreichen. Betreuung in Form von Coaching und Mentoring sowie Weiterbildungsangebote für Berufseinsteigerinnen und fachfremde Lehrpersonen seien nötig, die «Tankstelle Hochschule» allein genüge nicht mehr. Kooperationen könnten in Form institutionalisierter Zusammenarbeit zwischen der Volksschule, der pädagogischen Hochschule, der Musikschule sowie weiteren Bildungspartnern entstehen.

Die Volksschule müsste sich mehr öffnen für externe Musiklehrpersonen, die zusammen mit den Klassenlehrpersonen oder allein Musik unterrichteten. Diesen Lehrpersonen wiederum sollten entsprechende Ausbildungsprogramme an den Hochschulen, etwa in Form eines «Minorprogramms Musikunterricht Primar», angeboten werden.

An guten Ideen der Zusammenarbeit fehlt es nicht. Das zeigte auch Michael Marending, Lehrer an den Musikschulen Langenthal und Bantiger, mit der Präsentation seines Kooperationsprojekts Musikschule-Volksschule in Form eines Musiktags. Der Schulleiter der MS Zuchwil, Michael Vescovi, stellte das Solothurner Modell vor. In seinem Kanton sind die Musikschulen Teil der Volksschule und befinden sich meist im selben Gebäude. Das macht die Zusammenarbeit in vielerlei Hinsicht leichter. Projekte können von vornherein als gemeinsame Schulvorhaben aufgegleist werden.

Die Tagung warf viele zentrale und lange vernachlässigte Fragen auf und gab nach 10 Jahren hoffentlich den Anstoss für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Thema. Es sieht ganz danach aus, als kämen die Kantone nicht um eine «Harmonisierung der Ziele des Musikunterrichts an Schulen» (BV Art 67a Abs 2) herum, wenn sie den geforderten hochwertigen Musikunterricht erreichen wollen. Vom Bund ist ein erster Schritt kaum zu erwarten.

Details zum Bild
Auf dem Podium zu sehen sind (v. l. n. r.)
Peter Hänni, Schulinspektorat Bern-Mittelland
Letizia A. Ineichen, Dozentin PH Luzern und Leiterin Amt für Kultur und Sport Stadt Luzern
Mark Grundler, Schulleiter Primarschule Pestalozzi in Thun
Ruedi Kämpf, Dozent Fachdidaktik Musik am IVPNMS in Bern
Christian Lüscher, Moderation

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