Nachdenken über den Krieg – «Songs of Wars I Have Seen»

Ein szenisches Konzert des Orchesters 900presente mit «Songs of Wars I Have Seen» von Heiner Goebbels in Lugano.

Am Schluss gehen ganz langsam die Lichter aus. Das Orchestra 900presente spielt Heiner Goebbels‘ «Songs of Wars I Have Seen». Foto: Max Nyffeler

Wir befinden uns im grossen Saal des LAC Lugano, auf der Bühne das Orchester 900presente des Conservatorio della Svizzera italiana mit seinem Dirigenten Francesco Bossaglia. Die meisten Orchestermitglieder sind weiblich, nur hinten an Schlagzeug, Cembalo, Posaune und Trompete sitzen Männer. Zwischen den Spielerinnen im Vordergrund gibt es zahlreiche Lampen, wie man sie in jedem Haushalt findet: Stehlampen, Nachttisch-, Schreibtisch- und andere Lampen. Zusammen mit der diskreten, farblich wechselnden Bühnenbeleuchtung erzeugt das eine fast privat anmutende Atmosphäre, völlig untypisch für ein öffentliches Konzert. Und am Schluss gehen ganz langsam auch noch die Lichter aus und man sitzt im Dunkeln.

Das Dispositiv – halb Musiktheater, halb reine Konzertdarbietung – ist charakteristisch für das, was Heiner Goebbels ein «szenisches Konzert» nennt. Die Beleuchtung, die er für seine abendfüllende Komposition Songs of Wars I Have Seen nach Texten von Gertrude Stein ausgedacht hat, soll nach seinen Worten eine Atmosphäre erzeugen «wie bei einer abendlichen Lesung, bevor man ins Bett geht. Man könnte das auch als Spätprogramm um 22 Uhr spielen.» Er ist nach Lugano gekommen, um bei den letzten Proben mit den jungen Interpreten dabei zu sein, und ist des Lobes voll:

Sie sind sehr offen und überaus dankbar und haben auch sofort verstanden, wie mit diesen Texten umzugehen ist. Zum Beispiel was die Abwesenheit von Theatralität angeht, die mir so wichtig ist. Die muss man ja manchmal erst gegen Widerstände durchsetzen. Hier war das überhaupt kein Problem. Die Zusammenarbeit war super angenehm.

Die Texte von Gertrude Stein werden nicht gesungen, sondern abwechselnd von den weiblichen Orchestermitgliedern nur gesprochen, einige Male auch im kleinen Chor. Das untheatralische, gleichsam private Sprechen und die häusliche Intimität der Lichtquellen unterstreichen den Charakter der Texte als persönliche Notate und verleihen diesem szenischen Konzert einen Anstrich von vertrauter Nähe. Aber die Gemütlichkeit täuscht. Die Texte handeln vom Krieg. Die Diskrepanz von Inhalt und Form, die sich damit auftut, ist in der literarischen Vorlage begründet und ein ästhetisches Grundmerkmal des Werks.

Der Krieg in der eigenen Wohnung

Die Amerikanerin Gertrude Stein, Schriftstellerin, Verlegerin und Kunstsammlerin, verfasste ihre Aufzeichnungen 1943–44 im damals von den Nazitruppen besetzten Paris. Der Krieg als konkreter Horror ist weit entfernt, aber im Bewusstsein der Schreibenden hintergründig omnipräsent. Ihre wie beiläufig hingeschriebenen Gedanken kreisen um Alltagserfahrungen. Nachdenklichkeit paart sich mit genauer Beobachtung, unsichere Einschätzung der Lage mit literarischen Erinnerungen und dem Gefühl eines existenziellen Schwebezustands. Das färbt auf die Musik ab. Der transparente und schwerelos wirkende Orchestersatz wird ausgedünnt durch Instrumentalsoli als Ausdruck individueller Reflexionen und durch Momente der Stille, in welche die rezitierten Texte eingebettet sind. Die Aufmerksamkeit des Zuhörers wird permanent wachgehalten. Dazu Heiner Goebbels:

Gertrude Stein hat das alles im Grunde aus einer privaten, auch weiblichen Perspektive geschrieben, und das ist durchaus provokant. Sie betrachtet die Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Damit sollte man sich auch als Hörer beschäftigen und dann entscheiden, welcher Meinung man selbst ist. Es ist ein hochgradig subjektiver Text, entstanden aus dem Versuch, die Wahrnehmung des Kriegs in Worte zu fassen. Und genau diese Subjektivität hat mein Interesse geweckt.

Wars I Have Seen, der Titel von Gertrude Steins Buch, verweist auf den allgemeinen Charakter ihrer Reflexionen; es geht nicht um einen konkreten Krieg, sondern um den Krieg, wie er immer war und immer sein wird – ein ewiger Schatten der menschlichen Existenz. Goebbels illustriert diesen Gedanken auf paradoxe Weise mit einer Banalität. Die Komposition beginnt mit der Feststellung, dass mangels Zucker jetzt allen Süssspeisen Honig beigemischt sei, und sie endet mit der Vermutung, dass nach Kriegsende die Leute den Honig dann satt haben würden: «So war es im letzten Krieg, und so ist es in diesem Krieg. So sind Kriege. Eigentlich komisch. Aber Kriege sind eben so.» Ein fatalistischer Tonfall ist unverkennbar. Aber auch ihr Humor.

Appell an die kritische Vernunft

Goebbels schrieb das Stück bereits 2007 ohne einen konkreten äusseren Bezug, und dass es zu einer Situation wie heute kommen könnte, in der es plötzlich aktuell würde, hätte er sich damals nicht vorstellen können. Umso mehr ist er heute darauf bedacht, dass die Komposition nicht zu einem Betroffenheitsritual verkommt. Distanz zum Text ist ihm wichtig. Er will nicht an Gefühle appellieren, sondern an die kritische Vernunft und der Reflexion Raum geben.

Den Zugang zu Gertrude Steins Text fand er nicht über den Inhalt, sondern über die Struktur. Ihn interessierte das Beiläufige und Skizzenhafte der Gedanken, und besonders faszinierend fand er die häufigen Wiederholungen einzelner Wörter und Satzteile, Zeichen eines spontanen Schreibens. Diese rhythmischen Qualitäten setzte er in genau notierte musikalische Strukturen um. Nachvollziehen lassen sich diese auskomponierten Sprechrhythmen natürlich nur im englischen Original, und indem nun in Lugano die Textausschnitte von den Musikerinnen in ihrer jeweiligen Muttersprache gelesen wurden, ging etwas von diesen Sprechrhythmen verloren. Dafür kam eine persönliche Beziehung der Sprecherinnen zum Text ins Spiel. Das ist durchaus im Sinne des Komponisten, der Interpreten und Publikum mit seinen Stücken gedanklich aktivieren möchte.

Dialog verschiedener Zeitschichten

In den musikalischen Verlauf sind einige Zitate des englischen Barockkomponisten Matthew Locke (1621–1677) einmontiert. Auf die Idee kam Goebbels, weil Gertrude Stein auch auf grausame Herrscher aus Shakespeares Dramen wie Richard III. und Macbeth zu sprechen kommt, und weil die Uraufführung 2007 in London stattfand. Auftraggeber war neben der London Sinfonietta auch das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment. Dieses liess Goebbels in der etwas tieferen historischen und die Sinfonietta in der heute gebräuchlichen modernen Stimmung spielen. Die Konfrontation war so richtig nach dem Geschmack des Komponisten.

Für mich ist es generell interessant, wenn verschiedene Zeiten miteinander im Gespräch sind. Auch in Stifters Dinge gibt es zum Beispiel verschiedene Zeitschichten, die parallel laufen oder sich gegenseitig einholen. Einen solchen Umgang mit dem Phänomen Zeit finde ich spannender, als sich nur im Hier und Jetzt einzurichten.

Zwei verschieden gestimmte Orchester standen Goebbels seit London immer wieder zur Verfügung, zuletzt in Stockholm in diesem Februar. Das Orchester 900presente spielte nun in einheitlicher Stimmung und auf modernen Instrumenten. Einer erfolgreichen Aufführung stand das nicht im Weg. Das Werk, in dem sich Text und Musik, Innen- und Aussenwelt, szenische Elemente und unterschiedliche Zeiten zu einem vielschichtigen Ganzen verbinden, fand auch in Lugano ein begeistertes Publikum.

Heiner Goebbels bei den Proben mit dem Orchestra 900presente. Foto: Max Nyffeler

(Anmerkung Red.: Das Konzert fand am 18. April 2023 statt.)

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