Klingende Nebenwege durchs Gebüsch

Das Festival Rümlingen fand diesmal im Tessin statt. Vom 28. Juli bis 1. August schmiegte sich Neue Musik für ein kleines Publikum in die südliche Landschaft.

Nunzia Tirelli in der Installation «Grazien» von Lukas Berchtold. Foto: Max Nyffeler

Rümlingen war Ende Juli wieder auf Wanderschaft. Nach dem Unterengadin 2019 und dem Appenzell 2021 erkundete das Festival nun einen besonders attraktiven Teil des Tessins. Ausgangspunkt war das einstige Aussteigerparadies Monte Verità oberhalb von Ascona. Danach ging es mit einer Wanderung ins kleine Arkadien der Deutschschweizer Kulturbürger, das Valle Onsernone, und per Schiff auf die subtropischen Brissago-Inseln, immer mit sorgsam an die Landschaft angepassten Kompositionen, Klanginstallationen und sonstigen akustischen Darbietungen im Gepäck – mal als durchstrukturiertes Konzert, mal in Wundertütenmanier zur tönenden Erquickung des Wanderpublikums.

Der seit 1990 bestehende Verein Neue Musik Rümlingen geht mit seinen sommerlichen Festivals konsequent einen Nebenweg durchs Gebüsch, das den avantgardistischen Mainstream säumt. Die Handvoll Medienleute, Komponisten und Musikvermittler aus Deutschland und der Schweiz ist in beiden Ländern musikalisch gut vernetzt und kann auch auf das Interesse freundlicher Sponsoren bauen. Eine geschickte institutionelle Kooperation ermöglicht es, die Kosten niedrig zu halten. Lokale Partner im Tessin waren nun die Associazione Olocene (benannt nach der von Max Frisch im Onsernonetal geschriebenen Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän) und das Teatro del Tempo. Der Komponist und Festivalgründer Daniel Ott verfügt als echter Eidgenosse zudem über gute landeskundliche Kenntnisse und ein Gespür für das Randständige.

Das Tessin, Ende der Welt?

«Finisterre», Ende der Welt, lautete das assoziationsreiche Motto der fünftägigen Veranstaltung. Als Ausdruck einer romantischen Natursehnsucht machte das durchaus Sinn, und zum abgelegenen, von Abwanderung gezeichneten Onsernone passte das auch. Doch die Wahrnehmungsgrenze, das «Weltende», fällt bekanntlich immer mit dem eigenen Horizont zusammen. Und dieser reichte nun offenbar gerade noch bis zum Lago Maggiore. Die Touristenhotspots Ascona und Brissago und überhaupt das industrialisierte Tessin mit seinen täglich über achtzigtausend italienischen Pendlern mit der Idee eines Endes der Welt in Verbindung zu bringen, ist dann doch etwas naiv. Im Programmbuch unternahmen die Veranstalter allerlei weltanschauliche Klimmzüge, offenbar inspiriert durch den Genius Loci des Monte Verità. Wolkige Spekulation über andere Wirklichkeiten verband sich mit touristischen Sehnsüchten aus nordischer Sicht und einem Hauch von kulturellem Kolonialismus nach dem Motto «Jetzt exportieren wir unsere Avantgarde in den musikalisch brachliegenden Süden».

Abgesehen von solchen konzeptionellen Widersprüchen war das Unternehmen durchaus ein Erfolg. Alle waren zufrieden, die angereisten Künstler, die Veranstalter, das Publikum. Dieses bestand aus einer Schar treuer Festivalanhänger, die ein paar Tage Erlebnisferien machten, neugierigen Tagestouristen und ein paar Betriebsprofis; Einheimische waren wenige vertreten. Man war eine grosse Familie, überliess sich der Magie der Landschaft und folgte neugierig den darin platzierten Klangaktionen. Ohne Eigenleistung ging das freilich nicht ab. Für den Onsernone-Tag waren zum Beispiel drei Stunden Wanderung eingeplant, und wer nicht gut zu Fuss war, musste eben passen. Dank dem gesicherten Finanzpolster kann sich das Festival den Luxus kleiner Teilnehmerzahlen erlauben. Das Konzert auf der Brissago-Insel unterstand dem Numerus clausus, bedingt durch die geringe Passagierzahl auf dem Schiff.

Brennpunkt Monte Verità

«Rümlingen» ist ein Erlebnisfestival, es geht weniger um die künstlerische Exzellenz des Gebotenen als vielmehr um dessen unkonventionelle Wahrnehmung und auch um eine intensivere Selbstwahrnehmung. So bei der Gruppe Trickster-p, die keine Klänge, sondern nur Losröllchen anbot, in denen zum Beispiel die Aufforderung stand: «Wähle einen Ton, den du in deinem Kopf spielst. Spiele ihn mit der folgenden Begleitung: Wald im Frühling um 5.00 Uhr morgens.» Der konzeptualistische Gag war Teil des Eröffnungstags auf dem Monte Verità. Ein ähnliches Stummfilmerlebnis gewährte die Installation Grazien von Lukas Berchtold, in der eine Tänzerin zu sanft sich aus der Höhe entrollenden Papiergirlanden ihre Kreise zog.

Eine Intervention mit kulturkritischer Pointe gab es im Elisarium zu sehen. Die Innenseite dieses tempelähnlichen Rundbaus ist rundum mit nackten Buben bevölkert, die der baltische Adlige Elisar von Kupffer in den 1930er-Jahren in paradiesischer Pose auf die Wand pinselte. Der Norweger Trond Reinholdtsen – ein begnadeter Ironiker, der 2014 in Darmstadt mit dem schönen Ausspruch «O alte kranke Europa, ich liebe dich!» auffiel – setzte zu dieser leicht abgestandenen Homoerotik einen knalligen Kontrapunkt mit einem Video, in dem er seine hinlänglich bekannten, grellfarbenen Trolle herumkriechen lässt und dazu fröhlichen pseudophilosophischen Nonsense deklamiert.

Der Wald winkt den Lauschenden

In dem weitläufig-hügeligen Gelände konnte man einen Tag lang Unbekanntes, Überraschendes und manchmal auch ziemlich Beiläufiges erwandern. Auf dem Walkürefelsen – eine Bezeichnung der Monte Verità-Gründer – beschallte eine Sängerin, unterstützt von Elektronik, die Umgebung mit einem Laurie-Anderson-Verschnitt. Irgendwo im Gebüsch stand ein einsames Vibrafon, auf dem Notenständer «Der kranke Mond» aus Schönbergs Pierrot lunaire.

Vokalperformance auf dem Walkürefelsen mit Stephanie Pan. Foto: Max Nyffeler

In einer Waldlichtung standen einige Liegestühle herum, auf denen die Spaziergänger sich niederlassen konnten. Dann kam zu einer bestimmten Uhrzeit plötzlich Leben in die Szene. Studierende des Conservatorio Lugano stellten sich mit ihren Instrumenten hinter die entspannt Liegenden und verpassten ihnen mit leisen Tönen und Geräuschen eine sanfte Klangmassage. Und wenn dann auf heimliches Kommando die Zweige der umstehenden Bäume zu schaukeln begannen und dazu noch ein fernes Glockengeläut erklang, war es, als winke der verwunschene Wald den Menschen friedlich zu. Die von Manos Tsangaris im Timing genau ausgedachte, feinsinnige Klangsituation gehörte zum Besten an diesem Tag.

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