Mendelssohn-Trouvaillen aufgeführt

Das Klavierduo Soós-Haag spielte im Januar erstmals die vor einiger Zeit in der Sacher-Stiftung aufgespürten Kadenzen von Felix Mendelssohn zu Mozarts Konzert für zwei Klaviere und Orchester KV 365.

Klavierduo Soós-Haag Foto: Irene Zandel

Vor Jahren schon entdeckte das Klavierduo Soós-Haag zwei Kadenzen von Felix Mendelssohn zu Mozarts Doppelkonzert KV 365, die nun in Lindau, Liestal, Lutry und Boswil endlich aufgeführt werden konnten. Zu den damaligen Recherchen erläutert Ivo Haag: «In einem Brief vom 1. Juni 1832 an seine Familie in Leipzig schreibt Mendelssohn aus London, er spiele an diesem Abend zusammen mit Ignaz Moscheles das Doppelkonzert von Mozart und er habe aus diesem Anlass ‹zwei lange Kadenzen› geschrieben.»

Durch einen Hinweis von Ralf Wehner von der Leipziger Mendelssohn-Forschungsstelle erfuhren sie, dass diese «Londoner» Kadenzen in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel liegen. Bisher waren sie nur einigen wenigen Spezialisten bekannt. Haag beschreibt den Augenblick der Entdeckung als «magisch»: «Ich habe sofort gesehen, dass es hochinteressantes Material ist und wollte es unbedingt in eine aufführbare Form bringen.» Da die Manuskripte nur als Fragment erhalten sind, harrten die Kadenzen lange ihrer Vollendung und Aufführung.

Im Konzert von Chaarts vom 20. Januar im Künstlerhaus Boswil war Mozarts Doppelkonzert eingebettet in Werke von Bach, Veress und eine Mozart-Sinfonie. In Bachs Konzert C-Dur BWV 1061, ursprünglich für zwei Tasteninstrumente ohne Orchester geplant, konnte das Duo Soós-Haag seine Qualitäten demonstrieren: den Wettstreit der beiden ebenbürtigen Partner im ersten Satz oder der feinsinnige Siciliano. Die beiden Klaviere überstrahlten die hier noch etwas träge Begleitung des Ensemble Chaarts.

In den Vier transsylvanischen Tänzen drehte dieses dann aber mächtig auf. Veress hat die Volksmusik aus seiner Heimat geschickt in ein Streichorchester-Werk von hoher Intensität verwandelt. Die Komposition wurde 1950 von Paul Sacher in Basel uraufgeführt. Veress’ Nachlass befindet sich, wie die Mozart/Mendelssohn-Kadenzen, in der Sacher-Stiftung.

Die Tänze sind in guter Suitentradition gehalten. «Lassú» beeindruckt durch den romanzenhaften Gestus, ihm folgt mit «Ugros» ein Springtanz. Der schwermütige «Lejtös» beginnt mit einer getragenen Bratschenmelodie, während «Dobbantós» einen energischen Kehraus präsentiert, bei dem Dirigent Gábor Takács-Nagy gar bühnenreif ins Hüpfen kam.

Die Interpretation trug unverkennbar die Handschrift von Chaarts, die in Mozarts Sinfonie Nr. 29 A-Dur KV 201noch prägnanter hörbar wurde. Energisches, fast überdrehtes Streichen, Energieballungen von höchster Intensität bei kurzer Phrasierung. Zu diesem hochdynamischen Ansatz passte auch das Andante: Gemäss Partitur sollen alle Streicher mit Dämpfer spielen, was einen weichen, hintergründigen Klang hervorruft. War es Absicht, dass bei etlichen Musikern der Dämpfer fehlte? Jedenfalls ging der vorgeschriebene Sordino-Effekt verloren.

Aus der Improvisation entstanden

Im Mittelpunkt des Abends stand aber das Doppelkonzert von Mozart mit den beiden unbekannten Kadenzen. Dem Duo Soós-Haag war es gelungen, für die Vervollständigung des Funds Robert David Levin zu gewinnen. Es ist höchst selten, dass sich Manuskripte von Kadenzen erhalten, und so war Levin, der sich mit Rekonstruktionen von Mozart-Werken einen Namen gemacht hat, sofort interessiert. Besonders spannend ist, dass es Originalkadenzen von Mozart gibt, die «a tempo» gespielt werden.

Und bei Mendelssohn? Im Gegensatz zu Mozart ist es offensichtlich, dass Mendelssohns Kadenzen aus der Improvisation heraus entstanden sind, wie Haag erläutert: «Sie sind lockerer gefügt, Moscheles und Mendelssohn haben oft und gern zusammen improvisiert. Die zum ersten Satz ist mehr oder weniger ausgeschrieben, bis auf eine Stelle des ersten Klaviers, die auf einer nicht notierten Improvisation von Moscheles beruht. Robert Levin hat diese Stelle auf kongeniale Weise ergänzt. Das Skizzenmaterial zu der des dritten Satzes ist sehr rudimentär.» Levin musste also mehr ergänzen.

Als Zuhörerin im Konzert fragte ich mich natürlich, wie dies nun klingen mag: mehr nach Mozart oder mehr nach Mendelssohn? Die Auflösung war in mehrerlei Hinsicht frappant. Zum einen öffnet Mendelssohn das Tor weit in die Romantik, er ist freier, kühner in der Harmonik, und er schenkt den beiden Solisten je eine grosse eigene Partie. Das Klavierduo Soós-Haag liess sich nicht zweimal bitten, spielte die Eigenheiten gekonnt aus, agogisch raffiniert und quasi improvisando.

Bei der zweiten Kadenz bedauerte man die Kürze, man hätte der basslastigen Partie und den Girlanden à la Chopin gerne noch etwas länger nachgehört. Raffiniert, wie das Ensemble Chaarts unter Gábor Takács-Nagy den Spagat zwischen Klassik und Romantik bewältigte, mit weicherem Ansatz, längeren Phrasierungen und schmelzender Oboen-Kantilene. Die Kadenzen bilden eine Bereicherung des Repertoires und werden vermutlich veröffentlicht.

 

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