Mit Höreinschränkung im Konzert

Für ein Erleben mit allen Sinnen lässt das Freiburger Barockorchester das Publikum ganz nah heran. Zusammen mit dem dortigen Institut für Musikermedizin will es zudem herausfinden, wie sich Musikhören auf das Wohlbefinden auswirkt.

Ulrike Berger berührt zwischen Cello und Laute sitzend das Cembalo, um die Tonschwingungen wahrzunehmen. Foto: Frank S. Fischer

Ulrike Berger berührt zwischen Cello und Laute sitzend das Cembalo, um die Tonschwingungen wahrzunehmen. Foto: Frank S. FischerDer erste Paukenschlag im Halbdunkel geht durch Mark und Bein. Die Dissonanzen von Streichern und Cembalo bedrängen, die Piccoloflöten erschrecken. Les Éléments von Jean-Féry Rebel beginnt mit «Le cahos». Musik als elementare Kraft – erlebbar mit dem ganzen Körper. Komponiertes Chaos, das aufwühlt. Das Freiburger Barockorchester ist bekannt für seine plastischen, klanglich geschärften Interpretationen. Aber an diesem Sonntagnachmittag im Freiburger Ensemblehaus ist die Wirkung dieser Musik noch viel stärker.

Das Publikum sitzt in der Mitte und ist umgeben vom Orchester. Jeder Besucher darf seinen Hocker dorthin stellen, wo er möchte (Ausstattung: Fenia Garbe), und während des Konzerts seinen Platz wechseln. Auch die Musikerinnen und Musiker ändern zwischen den Werken ihre Position. Die Trompeter spielen mal von hinten, mal von vorne. Die Violinen sind erst ganz nah, dann weit entfernt. Der sonst so leise, kaum wahrnehmbare Klang der Laute ist durch die geringe Hördistanz eine echte Offenbarung. Auch optisch wird das Konzert durch die Nähe zum besonderen Erlebnis. Man kann die Tonerzeugung sehen: die angespannten Gesichtsmuskeln der Bläser, die Bogenstriche und die Schlägel, die das Paukenfell in Schwingung versetzen.

«Miteinander Hören» heisst das gemeinsame Projekt des Freiburger Barockorchesters und des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM), das von der Hochschule für Musik und dem Universitätsklinikum getragen wird. Das mit Bundesmitteln geförderte Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Höreinschränkungen besser in das Konzertleben zu integrieren. «Es interessiert uns, welche Bedeutung eine Hörbeeinträchtigung hat für den Konzertbesuch, für die Wahrnehmung von Musik und den Hörgenuss», sagt Claudia Spahn, die gemeinsam mit dem HNO-Arzt Bernhard Richter das FIM leitet. Bei der detaillierten Publikumsbefragung im Herbst möchte man aber auch Antworten von Personen ohne Höreinschränkung bekommen, um zu erfahren, wie sich das Musikhören generell auf das Wohlbefinden auswirkt. Nach der genauen Datenanalyse steht in einem dritten Schritt ein Sonderkonzert am 23. März 2026 im Konzerthaus an, in dessen Gestaltung die gewonnenen Erkenntnisse fliessen sollen.

Auf dem Sitzkissen zwischen Laute und Cello

Dass beim besuchten dritten Konzert die Zielgruppe des Formats, also Menschen mit Höreinschränkung, weitgehend fehlt, kann Hans-Georg Kaiser, Intendant des Freiburger Barockorchesters, nicht erklären. «Vielleicht liegt das an der Tabuisierung des Themas in der Gesellschaft. Oder am für unser Abo-Publikum ungewohnten Ort.» Das Konzert bietet mit Livevisuals (Sebastian Rieker) und einer dezenten Choreografie (Friederike Rademann) zusätzliche Reize, die auch Menschen mit einem Hörgerät ein intensiveres Musikerlebnis schenken könnten. Das steht für Kaiser ausser Frage. Inklusiv ist es vor allem deshalb, weil es Personen, die sonst gar keine Musik hören können, ein sinnliches Erleben ermöglicht.

Eine davon ist Ulrike Berger, die eine Hörprothese für Gehörlose und Ertaubte, ein Cochlea-Implantat, trägt. Cochlea bedeutet in diesem Zusammenhang Gehörschnecke. Berger wurde von Projektleiter Andreas Heideker direkt angesprochen. Wie sechs weitere Personen mit Cochlea-Implantat hatte sie sich am Vortag auf den Weg ins Ensemblehaus gemacht. «Wir waren alle total berührt. Ich selbst hatte die Schuhe ausgezogen und spürte so die Vibrationen am Boden, aber auch das Sitzkissen leitete diese weiter.» Seit Jahren hat die Geschäftsführerin der Deutschen Cochlea-Implantat-Gesellschaft (DCIG) kein Konzert mehr gehört, weil Musik durch das elektrische Hören verzerrt klingt. 22 Kanäle können die fehlenden 10 000 Hörsinneszellen nicht ersetzen.

Während des Konzerts setzte sich Berger zwischen Laute und Cello. «Da ich mich auf diese beiden Instrumente konzentrieren konnte, hörte ich die Melodien sehr gut. Und durch meine Hand am Cembalo nahm ich die Tonschwingungen wahr. So kam auch die Harmonie und damit die Musik selbst bei mir wunderbar an.»

Auch Georg Philipp Telemanns Ouvertüre La Bourlesque, Jean Philippe Rameaus Suite aus Les Boréades und Jean-Michel Delalandes Trompetenkonzert (Solo: Jaroslav Rouček, Karel Mňuk) wird durch den Raumklang zu einem besonderen Hörerlebnis. Konzertmeister Gottfried von der Goltz bewegt sich noch ein wenig mehr als sonst, um auch die Musikerinnen und Musiker in seinem Rücken mitzunehmen. Die Motive wandern durch den Raum, das Zusammenspiel klappt trotz der ungewohnten Aufstellungen ausgezeichnet. «Anders ist immer gut», sagt von der Goltz im Gespräch nach dem Konzert. «Auch die Nähe des Publikums war für uns besonders. Mitten im Getümmel zu sein und nicht distanziert auf einer Bühne zu stehen – das belebt unser Spiel.»

 

 

 

 

 

 

Das könnte Sie auch interessieren