Furrers Wirken beim Radio und seine Haltung zur Avantgarde

Auf ihrer Suche nach Persönlichkeiten, die ihren Vater, den Schweizer Komponisten Walter Furrer (1902–1978), gekannt haben, hat sich Beatrice Wolf-Furrer im ersten Trimester 2016 mit Klaus Cornell und Walter Kläy getroffen.

Klaus Cornell im Gespräch mit Beatrice Wolf-Furrer

Nach dem inhaltsreichen Gespräch, das ich am 5. Dezember 2015 in Thun mit dem Organisten Heinz-Roland Schneeberger führte, habe ich meine Suche nach Personen, die meinen Vater, den Schweizer Komponisten Walter Furrer (1902–1978), noch gekannt haben, fortgesetzt. Dabei bin ich im Verlaufe der letzten Monate zweimal fündig geworden.

Klaus Cornell

Während meiner Recherchen in der Burgerbibliothek Bern, die seit Juni 2012 den gesamten musikalischen Nachlass Walter Furrers betreut, bin ich in Abständen immer wieder auf den Namen Klaus Cornell gestossen und habe mich dabei erinnert, dass auch mein Vater ihn gesprächsweise gelegentlich genannte hatte.

Ich brauchte nicht lange zu suchen: Via Homepage erfuhr ich nicht nur, dass Klaus Cornell eine stringente Karriere als Dirigent sowie als Komponist aufzuweisen hat und mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnet worden ist, sondern auch, dass er heute in Konstanz lebt. Was gar nicht so selbstverständlich ist, denn von 1989 bis 2000 war er als erfolgreicher Musiker im Bundesstaat Oregon (USA) tätig, wo man ihn nur zu gerne behalten hätte. Doch zog es schliesslich den gebürtigen Berner, wenn auch nicht geradezu in die Schweiz, so doch ins benachbarte Ausland zurück. Als Alterswohnsitz wählte er Konstanz, eine Stadt, die ihm die Nähe zur Heimat, dabei aber doch, wie er betont, «etwas mehr Weite» verschaffte. Dort hatte ich am 27. Februar 2016 Gelegenheit, mich etwa eine Stunde lang mit ihm zu unterhalten.

In den sechziger Jahren arbeiteten Walter Furrer und Klaus Cornell Seite an Seite im gleichen Betrieb. Walter Furrer hatte 1957 nach einer fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit als Chorleiter und Kapellmeister am Stadttheater Bern zum Sender Studio Radio Bern gewechselt, wo er noch gut zehn Jahre als Kapellmeister, Leiter des von ihm im Auftrag des Senders gegründeten Kammerchors und Komponist wirkte.

1961 stiess der junge, aber bereits mit einschlägiger in der Schweiz sowie in Deutschland erworbener Berufserfahrung versehene Klaus Cornell zum Team des Senders, wo er bis 1983 eine leitende Stellung innehatte.

Schon in den sechziger Jahren war auch er als Komponist unterwegs, das bekannteste Werk dieser Ära ist die 1965 entstandene Radio-Oper Peter Schlemihl, Bilderbuch für Musik, deren Textbuch Kurt Weibel nach Adelbert von Chamissos Novelle Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte verfasste.

Bei der Aufnahme des Schlemihl wirkte auch der von Walter Furrer geleitete Kammerchor (s. o.) mit. Er erinnere sich gerne, so Klaus Cornell, an die Zusammenarbeit mit dem älteren Komponisten-Kollegen, die auch im umgekehrten Sinne funktioniert habe. So habe er zum Beispiel 1965 als Produktionsleiter die gesamte Aufnahme der furrerschen Auftragskomposition Quatembernacht. Eine Radioballade nach einer Walliser Sage für Kammerorchester, Orgel, Soli, Chor, Kinderchor und Sprechstimmen gesteuert. Auch in diesem Fall wirkte Kurt Weibel als Librettist.

Den damals beim Radio besonders wichtigen Sektor «Hörspielmusiken» haben beide Komponisten bedient.

Von der unmittelbaren beruflichen Zusammenarbeit abgesehen, kam es auch zu fachlichen Gesprächen grundsätzlicher Art, so zum Beispiel über die für den Erfolg einer Oper entscheidende kongeniale Zusammenarbeit von Librettist und Komponist. Auch die Theatersparte Operette – schon damals erfuhr die so genannte «leichte Muse» schwere Anfeindungen, die bekanntlich mit der Verbannung dieser Gattung von den subventionierten Theatern endeten – war Gegenstand grundsätzlicher Diskussionen, wobei Walter Furrer, mit Blick auf den ungebrochenen Erfolg der Operette, sich gegen deren radikalen Abbau geäussert habe.

Zudem wurde viel über die damals aktuelle Musikproduktion gesprochen. Zur zeitgenössischen Musik der 60er- und 70er-Jahre – man denke an die prominenten Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, die vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt (IMD) organisiert wurden – habe Walter Furrer, so Cornell, «ein kritisches Verhältnis» gehabt. Das verwundert auf den ersten Blick, denn Walter Furrer war ja während seiner Studienzeit in Paris im Lager der in den 20er-Jahren heftig bekämpften Avantgardisten und setzte sich insbesondere für Arnold Schönbergs damals noch keineswegs generell anerkannte Musik ein. Er selbst griff immer wieder auf serielle Techniken zurück; da er aber gleichzeitig in hohem Mass auf das Klangliche bedacht war, fiel seine eigene Modernität meines Erachtens wahrscheinlich weniger ostentativ auf.

Walter Kläy

Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs brachte mir das Gespräch mit dem Berner Musiker, Musiktheoretiker und Musikkritiker Walter Kläy, dessen Bekanntschaft mir Klaus Cornell vermittelt hatte und das am 4. April 2016 in Bern stattfand. Aber der Reihe nach.

Walter Kläy. Foto: Beatrice Wolf-Furrer

Walter Kläy absolvierte zunächst eine praktische Musikausbildung (Geige, Fagott, Klavier) und dann, von 1973 bis 1976, eine theoretische, die er mit dem Theorielehrer-Diplom am Konservatorium Bern abschloss. Zuvor war er (bis 1973) bei der Radiozeitung sowie als Redaktor in der Auslandredaktion der Schweizerischen Depeschenagentur tätig. 1976 kam er zu Studio Radio Bern, wo er als Musikredaktor wirkte und ausserdem die viel beachteten Spätkonzerte im Studio Bern, die jeweils am Montag ausgestrahlt wurden, organisierte und moderierte.

Zufällig arbeitete er im gleichen Büro, das sich zuvor Walter Furrer und der Dirigent und Pianist Luc Balmer, der damals als vielseitiger Mitarbeiter am Studio Bern wirkte, geteilt hatten. Walter Kläy ist Co-Autor der Festschrift für Theo Hirsbrunner, die 2011 unter dem Titel Dialoge und Resonanzen/Musikgeschichte zwischen den Kulturen vom Münchner Verlag edition text + kritik erschienen ist.

Am 7. September 1970 führte Walter Kläy ein Interview mit Walter Furrer, das in dessen Heim in der Halensiedlung stattfand, in der Nr. 40/1970 der Zeitschrift radio + fernsehen erschien und nun zum zentralen Thema unseres Gesprächs wurde. Walter Furrer hatte um eine schriftliche Beantwortung der Fragen gebeten, was auch zugestanden wurde. So enthält der Interview-Text lauter sehr präzise Formulierungen, die wichtige Einblicke in die Entwicklung des furrerschen Œuvres vermitteln.

Die drei Schaffensperioden Furrers

Walter Furrer liebte es nicht, sich analytisch über seine Werke zu äussern, aber hier machte er eine Ausnahme. Wie aus dem Text hervorgeht, teilte er selbst sein kompositorisches Schaffen in drei Perioden ein. Die erste habe im Paris der zwanziger Jahre begonnen, als er in der Klasse Nadia Boulanger Kontrapunkt studierte und sich intensiv mit den damaligen Avantgardisten Schönberg, Strawinsky, Roussel und Bartók auseinandergesetzt habe.

Die zweite sei durch seine Theatertätigkeit als Chorleiter und Kapellmeister ausgelöst worden, und zwar in dem Sinne, dass ihn nun «die dramatische Seite der Musik» nachhaltig beschäftigt habe, wovon die damals entstandenen Opern Der Faun und Zwerg Nase sowie das Ballett Weg ins Leben zeugen.

Die dritte Periode sei durch seine Verpflichtung bei Studio Radio Bern (ab 1957) eingeleitet worden und stelle eine Rückkopplung zur ersten dar, «indem ich mir die Erkenntnisse der seriellen Technik und der Erweiterung des Linearen und Melodischen dienstbar machte, was simultan auch zu einer Erweiterung des Harmonischen führte». Als Beispiele nenne er das fünfte Lied des Zyklus Fünf Totentanzlieder für Alt und Klavier nach Texten von Christian Morgenstern (1927), das mit einer Zwölftonreihe beginne – «unbewusst natürlich, aber doch als Niederschlag meines Schönberg-Studiums» –, sowie den 40 Jahre später entstandenen Psalm 142 für Sopran und Orgel, der «bewusst in Zwölftontechnik gearbeitet» sei. Dies merke man aber «nicht sofort, weil alle übrigen Elemente des Tonsatzes darin assimiliert sind».

Dennoch wäre es meines Erachtens verfehlt, in Walter Furrer einen eingeschworenen intellektuellen Zwölftöner zu sehen. Der «mit der Dodekaphonie zusammenhängende Intellektualismus hat mit meiner Musik nichts zu tun», betont er am Ende des Interviews. Sein wichtigstes Anliegen habe darin bestanden, «immer für die Instrumente, für die Stimmen, ja sogar für den Dirigenten zu schreiben. Es ist mir wichtig, dass meine Ausführenden Freude an der Musik haben … Damit kann ich auch zum Hörer vordringen.»

In diesem Zusammenhang kommt auch zur Sprache, wie schwer es die kompositorische
Avantgarde in den 20er-Jahren hatte – handfeste Skandale bei Aufführungen avantgardistischer Musik zumal in Paris waren keine Seltenheit – und wie leicht sie es bereits 1970 hatte (und heute noch hat). «Die heutige Avantgarde kann man nicht mehr mit der früheren vergleichen», äussert Walter Furrer im Interview. «Heute legt man ihnen die Hände unter die Füsse, damals gab es nichts zu lachen.»

Walter Furrer habe, so Walter Kläy, während des Interviews sehr ernst, konzentriert und, das sei ihm besonders aufgefallen, bedrückt gewirkt. Dies erklärt sich aus der in der Tat deprimierenden Situation, in der sich der alternde Komponist damals befand. Mit seinen Werken hatte er zwar viel Aufmerksamkeit und oft warmen Beifall, aber nicht das erreicht, was man als eigentlichen Durchbruch bezeichnet. Zudem vermisste er die Arbeit beim Radiosender, für den er nur noch freiberuflich als Leiter des Kammerchors tätig war. Hinzu kam noch, dass ebendieser künstlerisch hochstehende Kammerchor – beim Festival international de chant choral am 10./11. Oktober 1962 in Lille hatte er sich unter 59 Teilnehmern den dritten Preis ersungen – bereits 1970 von der Auflösung bedroht war. Alle Versuche, diese Entwicklung aufzuhalten, waren vergeblich, Ende 1972 verschwand er definitiv von der Bildfläche.

 

Ich danke Klaus Cornell und Walter Kläy sehr herzlich, dass sie mir diese Gespräche ermöglicht haben.

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