Ein Sammelband beleuchtet die Geschichte der Neuen Musik, ihre Erforschung und ihre Rolle in der Pädagogik

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Ein Jahrhundert liegen sie nun zurück, die Ursprünge der so genannten «Neuen Musik». Nicht nur die kompositorische Praxis hat sich seither enorm verändert, auch die akademische Welt hat neue Perspektiven entwickelt. Von einer zielgerichteten Entwicklung à la Theodor W. Adorno ist die Musikwissenschaft gelangt zu einer pluralen Deutung des 20. Jahrhunderts, die das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen betont. Der Herausgeber des bei Schott erschienenen Sammelbandes, der Stuttgarter Professor für Musikwissenschaft Andreas Meyer, beschreibt ebenso wie Gianmario Borio das Fortleben volkstümlich-primitiver Stilistiken, während Arnold Schönberg, Karlheinz Stockhausen oder Pierre Boulez spitzfindig an ihren seriellen Konstruktionen feilen. Gerade solche Gegensätze machen die Erfassung und die Begriffsbestimmung der Neuen Musik so schwer. Was sie heute ist, das vermag keiner mehr in eine bündige Formel zu bringen. Vor besonders schwierigen Aufgaben steht die Musikpädagogik, mit der sich Sointu Scharenberg beschäftigt. Ihr Aufsatz Wie gelangt die Neue Musik in die deutsche Musikpädagogik? bietet einen historischen Rückblick und überrascht mit dem Resümee, dass die Neue Musik spätestens in den frühen Siebzigerjahren im Musikunterricht der BRD angekommen sei. Da fragt man sich schon, woran es liegt, dass so viele Musikschüler (und Erwachsene) kaum mehr als zwei Komponisten nach 1950 kennen.

Der Titel Was bleibt? ist nicht nur im Hinblick auf durchgesetzte Werke der Neuen Musik zu verstehen. Vielmehr zielt die Frage auch darauf, welche musikwissenschaftlichen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts geblieben sind. Viele sind es nicht, so hat man den Eindruck. Natürlich bestimmt – ein hermeneutischer Allgemeinplatz – die Gegenwart immer den Blick auf die Geschichte. Die akademische Fixierung aufs Notenblatt hat mit einem üblen «Willen zum System» die Musikwissenschaft lange blockiert. Heute blicken die Musikforscher entspannter über den Partiturenrand hinaus. Während Simone Heilgendorff den unmittelbaren Blick in die Gegenwart nicht scheut und nach der aktuellen Bedeutung der Begriffe Avantgarde oder Fortschritt für heutige Komponisten fragt (und dabei skeptische Antworten erhält), untersucht Matthias Tischer in seinem Aufsatz Musik in der Ära des kalten Krieges die Bedeutung der Besatzungsmächte für die Musikentwicklung nach 1950. Nicht primär von John Cage ist da die Rede, dafür aber von einer Konkurrenz um die Kulturhoheit in Deutschland nach der vermeintlichen Stunde Null. So schmerzhaft es für die «kritische Avantgarde» klingen mag: Die Neue Musik nach 1950 konnte auch deshalb in Deutschland so gut gedeihen, weil sie Amerika im Westen und Russland im Osten mit viel Geld grosszügig unterstützte. Politik, Macht und Musik ist enger verknüpft, als mancher «Ästhetizist» glauben mag – auch das nimmt man nach der kurzweiligen Lektüre des empfehlenswerten und gut lesbaren Sammelbandes mit.

Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik, Stuttgarter Musikwissenschaftliche Schriften Band 1, hg. von Andreas Meyer, 221 S., brosch., € 29.95, Schott, Mainz 2011, ISBN 978-3-7957-0754-5

 

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