Wegweisende (Neu-)Kontextualisierung

Leila Zickgraf setzt in ihrer Dissertation zum ersten Mal Strawinskys epochemachendes Choreodrama in Bezug zur sogenannten Theaterreform um 1900 und eröffnet so einen interdisziplinären Zugang.

Es mag den disziplinären Grenzen von Musik- und Theater- resp. Tanzwissenschaft geschuldet sein, dass sowohl Igor Strawinskys Musik als auch Vaclav Nijinskis Choreografie von Le Sacre du Printemps zwar in ihren Fachdisziplinen unbestritten als epochale Novitäten gelten, das «Gesamtkunstwerk» und seine Entstehung jedoch nie umfassend in einen kulturhistorischen Kontext gestellt wurden. Leila Zickgraf hat in ihrer Dissertation nun eine Gesamtschau unternommen. Die Verbindungen von führenden Figuren der Ballets Russes zu den treibenden Kräften der (pan-)europäischen Theaterreform um 1900 und deren Reformideen – besonders zu Georg Fuchs und Edward Gordon Craig – sind durch eine Vielzahl an Dokumenten belegt. Daher ist Zickgrafs Erstaunen, dass es bisher nicht zu einer entsprechenden Kontextualisierung gekommen ist, nur allzu verständlich.

In akribischer Detailarbeit baut die Autorin ihre Argumentation auf und erzählt so eine – verglichen mit der bisher angenommenen – mindestens so plausible und in ihrer Informationsfülle anschaulich nachvollziehbare Geschichte der Entstehung des Sacre und der ihm zugrunde liegenden ästhetischen Bestrebungen. Viel Hintergrundwissen zu den Ballets Russes und ihren Bezügen zur Theaterreform sowie wichtige Exkurse in die Theaterreformbewegung machen die Lektüre zwar zunehmend komplex, doch führt die Autorin die Lesenden meistens gekonnt. Der sehr umfangreiche Fussnotenapparat mag auf den ersten Blick abschrecken und den Lesefluss ins Stocken bringen, er stützt die Argumentation jedoch mit zahlreichen Brief- und Rezensionsauszügen auch auf Russisch (inkl. Übersetzung). Am Schluss konstatiert Zickgraf: «Der Sacre kann ohne die Theaterreform nicht vollständig verstanden werden. Nicht nur hatten sich Strawinsky und Nijinski hierfür dezidiert mit einigen ihrer zentralen Forderungen auseinandergesetzt; auch die oft beschworene radikale Modernität des Werks muss zwingend auf sie zurückgeführt werden.» (S. 210) So setzt die Autorin einen beachtlichen Teil des Puzzles zum Verständnis des Sacre zusammen und schafft ein zukunftsweisendes Beispiel interdisziplinärer Forschung zwischen historischer Musik-, Tanz- und Theaterwissenschaft.

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Leila Zickgraf: Igor Stravinskijs Theater der Zukunft. Das Choreodrama «Le Sacre du Printemps» im Spiegel der Theaterreform um 1900, 280 S., € 99.00, Wilhelm Fink, Paderborn 2020. Open Access: https://doi.org/10.30965/9783846764596

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