Der Doyen und drei Generationen

Walter Grimmer und das 3G-Quartett haben Schuberts Streichquintett C-Dur eingespielt. Als Auftakt erklingt Philippe Racines Adagio, entstanden auf Anregung Grimmers.

Walter Grimmer. Foto: Ursula Lehmann Artists Management

Gerade ist Walter Grimmer 82 geworden. Nach einem reichen musikalischen Leben die Beine hochlegen möchte er aber nicht. Der gerne als «Doyen der Schweizer Cellisten» bezeichnete Musiker, der sich mit viel Leidenschaft besonders auch der Neuen Musik gewidmet hat, legt nun mit seinem Dreigenerationenquartett 3G eine bemerkenswerte Einspielung des Schubert-Streichquintetts in C-Dur vor, die gerade in den lyrischen Passagen eine berührende Klangschönheit und Innigkeit atmet. Der Streicherklang ist genau abgestimmt, das Vibrato so geschmackvoll wie dezent. Walter Grimmer spielt den zweiten Cellopart, sein Schüler Sébastien Singer den ersten; Egidius Streiff, souverän, aber nie dominierend an der ersten Geige, die junge Lisa Rieder an der zweiten und Mariana Doughty an der Viola komplettieren das Ensemble.

Der zweite Satz ist mit den flächigen, warmen Akkorden in den Mittelstimmen ein echter Locus amoenus, bevor im Mittelteil eine andere Welt hereinbricht, der es aber dann doch ein wenig an Dramatik fehlt, um den von Schubert komponierten extremen Kontrast noch eindringlicher werden zu lassen. Auch im Kopfsatz entscheidet sich das um ein Cello erweiterte 3G-Quartett eher für Verbindlichkeit als für Deutlichkeit – die abstürzenden Stakkato-Achtel hat man schon dramatischer gehört. Im Scherzo schärfen die fünf die Kontraste zwischen lustvoll zupackend und ätherisch entrückt im Mittelteil. Das recht gemächlich startende Finale entfesselt nach und nach die gestaute Energie und ist herrlich frei musiziert. Kleinere Ungenauigkeiten wie klappernde Pizzikati im Adagio fallen kaum ins Gewicht.

Dass vor dem Quintett ein Adagio für Streichquintett des Schweizer Komponisten Philippe Racine erklingt, das Walter Grimmer in Auftrag gegeben hat, passt zur Vita des Schweizer Cellisten, der sich stets für zeitgenössische Werke eingesetzt und zahlreiche von ihnen uraufgeführt hat. Hier erbat er sich explizit ein Werk, das vor dem Schubert-Quintett zu spielen sei: C-Dur-Reminiszenzen treffen auf Flageolettzauber, verlorene Triller, gespannte Akkorde und innige Melodiefragmente.

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Franz Schubert: Streichquintett in C-Dur, Philippe Racine: Adagio für Streichquintett. Walter Grimmer und das 3G-Dreigenerationenquartett. Solo Musica SM 331

 

 

 

 

 


Anmerkungen von Walter Grimmer zu Schuberts Streichquintett D 956 op. posth. 163

«Seit der Erfindung der Notenschrift gibt es die Tonkunst in zwei Aggregatzuständen: als notierte und als klingende Musik. […] Seit der Erfindung der Schallplatte hat sich verstärkt eine dritte Grösse zwischen Notation und Klang geschoben, nämlich der Interpret.»(1)

Indes ist die Zielsetzung des Interpreten einzig und allein, die Musik «in ihrem innersten Wesen»(2) als zeitlich gebundenen Klang hörbar zu vermitteln. Waches Formbewusstsein, empfindsamste Klangsensibilität in Bezug auf die Harmonik sowie Beherrschung der spieltechnischen und dynamisch-dramatischen Ausführung sind die Grundlagen, ohne die er sich nicht einmal in die Nähe der grossen Meisterwerke wagen kann.

Eine massgebende Interpretation des Streichquintetts D 956, Schuberts instrumentalem Schwanengesang, unbestreitbarem Gipfel seiner Gattung, verlangt eine fundierte innovative Kunstfertigkeit seiner Interpreten; sie können sich das Stück freilich seit langem leider nur in einer recht zweifelhaften Drucklegung des verschollenen Manuskriptes aneignen: Spätestens seit der ersten Ausgabe als «Grand Quintuor» von 1853 bei C.A. Spina in Wien ist das Manuskript unauffindbar.

Zahlreiche offensichtliche Unstimmigkeiten, auch Flüchtigkeitsfehler, die Schubert nicht mehr korrigierend hat bereinigen können, sind seltsamerweise auch von den neuesten sog. Urtextausgaben übernommen worden. Auch scheint es, immer im Vergleich mit anderen Spätwerken Schuberts, dass der unbekannte Kopist besonders den letzten Satz des Quintetts mit dynamischen Anweisungen eigenmächtig und verschwenderisch überladen hat.

Ein offensichtliches Beispiel für die zweifelhafte Authentizität des überlieferten Textes: Am Schluss der Exposition des ersten Satzes macht der letzte Dominantseptakkord nur Sinn, wenn diese wiederholt wird. Keinesfalls ist er ein «Wegweiser» zur anfänglichen Durchführungs-Tonart. Editionstechnisch gesehen müsste dieser Takt also als «erster Ausgang» kenntlich gemacht werden, der folgende Takt hingegen als «zweiter Ausgang». Als weiteres Beispiel sticht die tradierte Verwässerung der Form des dritten Satzes und dessen Trio ins Auge. Seine überlieferte Gestalt ist auch hier neu zu lesen, die Coda natürlich nur einmal zu spielen – der Interpret wird wahrhaftig zum Sinnstifter. Auf diesen Sachverhalt ist bisher in den Ausgaben und in der Literatur zu Schubert seltsamerweise noch nicht eingegangen worden.

Durch seinen harmonisch uns so berührenden Gehalt, nicht zuletzt auch durch die zeitliche Ausdehnung, durch den «epischen Charakter»(3) seiner letzten Werke scheint Schubert das «bergende Gehäuse»(4) der Sonatensatzform schier zu sprengen.

Wie ein Leitmotiv erlebt der Hörer in jedem der drei ersten Sätze die langen und verzehrenden an- und abschwellenden Klänge. Anders das abschliessende Unisono-C des letzten Satzes: Wie, wenn dieses nur noch, unendlich abschwellend, als ein Verstummen in bodenloser Tiefe gedacht wäre?

Die wechselseitige Funktions- und Lagenänderung der fünf Streichinstrumente – selbst die Bratsche wird gelegentlich zum Fundament – ist eine der genialen Seiten dieses Quintetts; Möglicherweise hat der Komponist hier die erweiterte Bass-Aura seines «Forellenquintetts» D 667 weiterentwickelt. Die vielen bereits existierenden Quintette mit zwei Celli, von Boccherini bis Onslow, gehen eigene Wege und haben nichts gemeinsam mit Schuberts visionärem Wurf einer fast symphonisch anmutenden Kammermusik.

Das so viel gespielte Stück, oft ad hoc zusammengewürfelt, oft auch einfach mit einem Stargast am zweiten Cello besetzt, hat allen Unstimmigkeiten zum Trotz seinen hohen Rang behalten können. Ich erlebte es als eine sehr grosse Chance, dieses ultimative Meisterwerk während Jahren immer wieder neu zu überdenken und «auszuhören».

Das Abwägen der Nuancen, der stets vorhandene Zweifel an der Authentizität der überlieferten Partitur, das Verwerfen oder das Hinzufügen von Spielanweisungen, das Ausformulieren des nicht Notierten, auch das «Lernen vom Partner» und schliesslich das wiederholte Nachprüfen im Konzert – ein leidenschaftliches musikalisches Abenteuer, auf welches ich lange habe warten müssen, hat mit dieser Einspielung seinen harmonischen Abschluss gefunden.

Mein tiefer Dank gilt meinen Freunden vom 3Gdreigenerationenquartett; nur durch ihren bedingungslosen künstlerischen Einsatz konnte diese Einspielung realisiert werden.

 

1) Silke Leopold : Über die Musik. https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/silke-leopold-ueber-die-musik-29457622.html, [konsultiert am 31 Juli 2019]

2) Ibid.

3) Ernest Ansermet, 1961. Les Fondements de la musique dans la conscience humaine. Neuchâtel, Ed. de La Baconnière, S. 420.

4) Peter Gülke, 1973. Schubert. München, Ed. text + kritik, S. 150

 

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