Singen aus Glauben

Anne Smith hat Ina Lohr, der Pionierin für Alte Musik und prägenden Persönlichkeit in der Basler Musikgeschichte, eine Biografie gewidmet. Leider nur auf Englisch.

Das Musikleben benötigt Persönlichkeiten, die normalerweise dem Fokus landläufiger Musikgeschichte entgehen, weil sie weder als Interpretinnen noch als Komponisten bedeutende Spuren hinterlassen haben. Sie wirken etwa als Kirchenmusiker, als Musikpädagoginnen, als Musikforscher oder als Programmverantwortliche. In all diesen vier Bereichen hat sich die aus den Niederlanden stammende Musikerin Ina Lohr (1903–1983) im Basler Musikleben hervorgetan. Sie war in einer kulturbeflissenen und musikliebenden Familie aufgewachsen und hatte früh eine breite musikalische Bildung erlangt. 1929 kam sie als Kompositionsstudentin in die Schweiz. Ina Lohr gehörte zu den Gründern der Schola Cantorum Basiliensis und entfaltete eine vielbeachtete Wirkung als Dozentin für Generalbass, gregorianischen Choral, Hymnologie und Hausmusik. Sie war auch eine eifrige Verfechterin der Erneuerung der Kirchenmusik in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg. Ihr lag besonders das Musizieren mit Laien am Herzen, und das Miteinander-Singen als Gemeinde entsprach für sie einem wesentlichen Bedürfnis als gläubige und darum singende Christin. Diese Mission liess sie ebenso an der Theologischen Fakultät der Universität Basel unterrichten wie zahlreiche Kurse und Vorträge vor gemischten und Fach-Publika über eine faktenbasierte und doch zeitgemässe Kirchenmusik halten. Zudem war ihr an der Verbesserung des Musik- und des Blockflötenunterrichts an den öffentlichen Schulen gelegen. Als jahrzehntelange Mitarbeiterin von Paul Sacher in der Gestaltung der Konzerte des Basler Kammerorchesters, als Proben-Vorbereiterin und Einstudiererin dieses Chors trug sie wesentlich zum Erfolg von Sachers Konzertunternehmung während fast deren gesamten Bestehens bei. Dabei erwies sich Lohr, die für Honegger, Krenek, Milhaud und besonders Strawinsky eintrat, von Anfang an auch als Expertin neuer und neuester Musik.

Es war also höchste Zeit, dass sich eine Autorin in das Leben und die diversen Tätigkeitsgebiete von Ina Lohr einarbeitete, welche das Basler Musikleben ein halbes Jahrhundert lang geprägt und zu den Pionierinnen der alten Musik gehört hat! Anne Smith, selbst fast vierzig Jahre Lehrerin an der Schola Cantorum Basiliensis, hat nun eine umfassende Biografie dieser auch der Frauenmusikgeschichte entgangenen Musikerin vorgelegt, dazu unzählige Briefe gelesen, Interviews gemacht und musikalische Quellen zusammengetragen.

Beim Lesen gewinnt man Eindrücke von der Willenskraft und Arbeitsleistung einer bewundernswerten Musikpersönlichkeit, aber auch von ihren zum Teil krankheitsbedingten Krisen. Zugleich erhält man Einblicke in kaum bekannte Facetten des Basler Musiklebens und der Geschichte der Schola Cantorum. In ihrer Monografie legt Anne Smith einen deutlichen Schwerpunkt auf Lohrs wechselvolle Beziehung zu Paul Sacher, mit dem diese in den unterschiedlichen Institutionen zusammenarbeitete. Dabei wird nicht nur Lohrs widersprüchliche Persönlichkeit lebendig, sondern auch Sacher erscheint in bemerkenswert neuem Licht. Obwohl sämtliche Texte auch in den Originalsprachen zitiert sind, ist der Publikation eine Übersetzung ins Deutsche zu wünschen.

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Anne Smith: Ina Lohr (1903–1983). Transcending the Boundaries of Early Music (Schola Cantorum Basiliensis Scripta 9), 514 S., Fr. 82.00 (Print), Fr. 66.00 (E-Book), Schwabe, Basel 2020, ISBN 978-3-7965-4106-3

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