Spiegel des Gesamtschaffens

Das Mendelssohn-Handbuch zeigt den Komponisten mit der Fülle seines Werks und im Umfeld seiner Zeit.

Es hat sich viel getan in der Mendelssohn-Forschung: Gab es vor dreissig Jahren lediglich die umfangreiche Biografie von Eric Werner, so hat sich seither eine Fülle an Publikationen aufgetürmt. Erwähnt seien die bahnbrechende Biografie von R. Larry Todd und die Edition der fast 6000 Briefe, die 2017 abgeschlossen werden konnte. Diese schwergewichtigen Ausgaben verweisen auf die Wiederentdeckung von Mendelssohns Gesamtschaffen, die erst um 1990 nach jahrzehntelangem Vergessen so richtig Fahrt aufnahm.

Als Resultat dieses Aufbruchs ist nun auch ein Band über Felix Mendelssohn in die verdienstvolle Reihe der Komponisten-Handbücher der Verlage Metzler und Bärenreiter aufgenommen worden. Der gewaltige Umfang des von Christiane Wiesenfeldt herausgegebenen Werkes spiegelt eindrücklich den in relativ kurzer Zeit erreichten Forschungsstand zu Mendelssohns so umfangreichem Schaffen. Hier ist die Vielfalt seines Komponierens präsent, nicht nur die Grossformen Sinfonie oder Oratorium, sondern auch viele kleinere Werke, die ebenfalls gebührend reflektiert werden.

Da wären einmal die Frühwerke wie die Streichersinfonien und die Doppelkonzerte (für zwei Klaviere oder für Violine und Klavier), die gewürdigt werden. Aber auch etwa den Liedern im Freien zu singen, einst als nichtswürdige Petitessen belächelt, wird Platz eingeräumt. Das zeigt, wie sich solche Aspekte des Gesamtschaffens als vollgültige Werkbestandteile eines schillernden romantischen Geistes etabliert haben.

Daneben schenkt dieses Handbuch geistesgeschichtlichen Phänomenen, die im Zusammenhang mit dem Porträtierten relevant sind, besondere Beachtung: Helmut Loos, Mitherausgeber der Mendelssohn-Briefe, gibt Einblicke in die Briefkultur des 19. Jahrhunderts. Ein umfangreicher Teil von 40 Seiten ist der Rezeption gewidmet, deren Geschichte von Richard Wagners antisemitischem Verriss über das abstruse Verbot als «entartete Musik» bis zum Aufblühen in den 1990er-Jahren reicht und die bis heute nicht frei von Klischees ist.

Ausführlich zur Sprache kommen auch die privilegierte familiäre Situation und die beispiellose Frühbegabung der Geschwister Fanny und Felix. Beatrix Borchard beleuchtet diese Aspekte kenntnisreich und verschweigt auch die Zurückbindung von Fannys Kreativität nicht. Gerade hier ist aber auch der einzige Makel des Handbuchs zu verzeichnen, dass der Rolle Fannys im künstlerischen Schaffen von Felix nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Fachspezialistin Borchard hätte gewiss einen gewichtigen Artikel dazu beisteuern können.

Insgesamt bietet dieses Mendelssohn-Handbuch aber eine Fülle von Informationen und Möglichkeiten des Gebrauchs, der vom schnellen Nachschlagen bis zum ausgiebigen Lesen reichen kann. Allein das fast 120 Seiten umfassende Konvolut zum Thema «Vokalmusik» zeigt, welch immensen Reichtum an musikalischen Werken uns Mendelssohn geschenkt hat. Das sorgfältige Register ermöglicht den Einsatz als Nachschlagewerk.

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Mendelssohn-Handbuch, hg. von Christiane Wiesenfeldt, XX + 506 S., € 99.99, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2020, ISBN 978-3-7618-2071-1

Zeichnung oben: wikimedia commons

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