Geschwister im Geiste

Nach einer Biografie über Pauline Viardot-García hat Beatrix Borchard nun auch deren Briefwechsel mit Julius Rietz herausgegeben, der von 1858 bis 1874 entstand.

Keine Professorin forscht so intensiv nach der Geschichte weiblicher Kreativität im Musikbetrieb des 19. Jahrhunderts wie Beatrix Borchard an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Ihr verdanken wir wertvolle Quellenstudien zu Robert und Clara Schumann, aber auch zu Amalie und Joseph Joachim. Zudem hat sie 2003 die multimediale Forschungsplattform «Mugi» zum Thema Musik/Musikvermittlung und Gender lanciert und diese zu einem wichtigen Nachschlagewerk ausgebaut.

Über ihre Studien zu Clara Schumann stiess Borchard auch auf Pauline Viardot-García (1821–1910), eine enge Freundin der Schumanns. Zu Lebzeiten war Viardot sehr bekannt und einflussreich. Sie wurde in Paris in eine Opernsänger-Familie hineingeboren, ihre 13 Jahre ältere Schwester war die legendäre Maria Malibran.

Pauline Viardot liess sich ursprünglich als Pianistin ausbilden. Doch als mit dem frühen Tod der Malibran – diese starb mit nur 28 Jahren – die Existenz des Familienunternehmens gefährdet war, zwang ihre Mutter sie kurzerhand zum Singen. Und siehe da: Auch sie hatte das unvergleichliche, herbe Timbre des spanischen Vaters in der Stimme, Viardot wurde zu Malibrans ebenbürtiger Nachfolgerin und feierte in ganz Europa triumphale Erfolge.

Borchard war sogleich fasziniert von dieser wahrhaft europäischen Künstlerin und deren vielseitigen Begabungen auch als Komponistin, Gesangspädagogin und Herausgeberin alter französischer Lieder. Nach einer Viardot-Biografie legt sie nun deren 660 Seiten umfassenden Briefwechsel mit Julius Rietz (1812–1877) vor. Rietz, der noch mit Mendelssohn an der Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion mitgewirkt hatte, war ab 1847 in Leipzig Theaterkapellmeister und später Dirigent des Gewandhausorchesters, Viardot trat beiderorts als Sängerin auf.

Dass sich zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Künstlertypen eine derart heftige Brieffreundschaft entspann, ist nicht einer erotischen Liebe geschuldet, wie Borchard schreibt: «Was war es dann? Beide schreiben von Geschwisterlichkeit, von tiefer Freundschaft. Beide haben das Bedürfnis, sich brieflich vorbehaltlos zu öffnen. Beide bestätigen einander immer wieder, wie lebensnotwendig die Briefe des anderen für sie sind.»

Rietz’ Briefe waren bisher unveröffentlicht geblieben, diejenigen von Viardot sukzessive bekannt und auszugsweise veröffentlicht worden, doch noch nie in dieser Vollständigkeit. Der Briefwechsel stammt aus der Zeit von 1858 bis 1874 und erhellt die Lebensumstände beider Künstlerpersönlichkeiten. Auch erfährt man von Julius Rietz interessante Dinge über berühmte Musiker rund um das Gewandhausorchester. Und beide interessierten sich brennend für die richtige Interpretation alter Musik und unterstützten die Leipziger Bach-Gesellschaft.

Viardot schrieb auf Deutsch und Französisch, die französischen Briefe sind hier parallel zum Original auch in deutscher Übersetzung publiziert. Interessant und gut geschrieben sind auch die vier Essays im Vorspann zum Briefwechsel, die nicht nur Viardot und Rietz in ihrer Eigenart porträtieren, sondern auch – wie es die Mitherausgeberin Miriam-Alexandra Wigbers getan hat – «musikalische Themen ihres Briefwechsels» herausarbeiten. Zudem zeugen die ausführlichen Anmerkungen zu den Briefen von enormem Hintergrundwissen, kommentiert wird klar aus weiblicher Sicht.

Fazit: eine sehr fundierte und spannend kommentierte Quellenedition.

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Pauline Viardot-García – Julius Rietz: Der Briefwechsel 1858–1874, hg. von Beatrix Borchard und Miriam-Alexandra Wigbers, (= Viardot-García-Studien 1), 663 S., € 68.00, Olms, Hildesheim u. a. 2021, ISBN 978-3-487-15981-2

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