Weniger wäre mehr

In seiner «Kulturgeschichte der europäischen Musik» bringt Gernot Gruber überraschende Bezüge zu Tage, die Ausführungen sind aber oft abstrakt und bringen die Musik nicht wirklich nahe.

Seit dreissig Jahren suche ich ein Buch über «europäische» Musikgeschichte für Studierende. Trotz der Fülle an anregenden Gedanken und Ideen («kritische Phantasie», S. 8) ist Gernot Grubers Kulturgeschichte der europäischen Musik für meinen Zweck ungeeignet. Hier wird – trotz einleuchtender Gedanken dazu – nicht Musikgeschichte erzählt, sondern über sie räsoniert. Dass unterschiedliche Epochen unter verschiedenen Perspektiven abgehandelt werden, ist zwar pragmatisch und wohltuend. Dennoch ist die Bandbreite vom blossen Referieren von Erforschtem (Musik des ersten Jahrtausends), komplizierten musikhistoriografischen Erwägungen (18. Jahrhundert) und blossem Namedropping (immer wieder) etwas gar gross.

Die letzte von sieben Abbildungen steht auf S. 77, Notenbeispiel gibt es kein einziges. Wie will der Autor so die Trias von «Wissen, Sehen und Hören» (S. 1) einlösen? Hier strahlen nicht die Errungenschaften der Komponisten und die Schönheiten von Musik, sondern die Gelehrsamkeit des Historikers. Allzu häufig braucht es beträchtlichen Sachverstand, um zu vermuten, was der Autor mit Nebenbemerkungen andeuten will. Dabei stellt ihm die deutsche Sprache mit abstrahierenden Wortendungen wie -ung und -ation unüberwindliche Fallen, statt dass er musikalische Leistung so konkret wie einfach vor dem geistigen Auge und Ohr der Lesenden sich entfalten lässt. Was ist mit «bewegliche Strukturierung» und «Verdichtung» gemeint bei einem Komponisten (J. S. Bach), von dem keine einzige Komposition als Beispiel zur Erläuterung herangezogen wird? Besonders ärgerlich ist die Nennung von Komponisten (und höchstens Werktiteln) ohne eine einzige Bemerkung zu deren Musik.

Wenn die Schweizer Musik von 1968 bis 1991 mit drei Namen (Klaus Huber, Rudolf Kelterborn und Heinz Holliger) umrissen wird, ist dies einseitig. Bleibt vom Letztgenannten nicht mehr übrig als «Der als Oboist weltberühmte Heinz Holliger (*1939) war ab 1975 Professor an der Freiburger Musikhochschule und ist auch als Dirigent und Komponist bis heute in der und für die Schweiz sehr einflussreich», so ist dies nichtssagend, nur bedingt richtig und deswegen innerhalb einer «[…]geschichte der […] Musik» unzuträglich.

Mein Ausgangspunkt war eine bestimmte Frage; die Antwort darauf ist negativ. Als Rezensent interessieren mich die Ausrichtung, das Konzept und dessen Umsetzung. Das heisst nicht, dass man das Buch als Informationsquelle nicht mit Gewinn lesen könnte. Der Autor versteht es, neue und ungewohnte Bezüge einsichtig zu machen und aus der Fülle seines Wissens ein neuerliches Nachdenken über Musikgeschichte zu provozieren.

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Gernot Gruber: Kulturgeschichte der europäischen Musik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 832 S., € 49.99, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2020, ISBN 978-3-7618-2508-2

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