Einfühlsamer Lehrer, Schöpfer und Beobachter

Der Sammelband mit 15 Aufsätzen zu Leben, Werk, Lehr- und Vermittlungstätigkeit von Sándor Veress eröffnet neue Betrachtungsweisen.

Sándor Veress 1983 mit dem Berner Streichquartett (v.li.: Henrik Crafoord, Alexander van Wijnkoop, Walter Grimmer, Christine Ragaz). Foto: Peter Friedli

Sándor Veress war von grosser Bedeutung für die Schweizer Musikgeschichte. Eigentlich hatte er ja eine Karriere in den Vereinigten Staaten in Aussicht. Doch als die Lehramtsstelle sich in Pittsburgh aufgrund der ehemaligen Mitgliedschaft in der ungarischen Kommunistischen Partei zerschlug, landete Veress in Bern. Dort blieb er von 1949 bis an sein Lebensende im Jahr 1992. Als angesehener Hochschullehrer unterrichtete er namhafte Schweizer Komponisten und Musikwissenschaftler. Zu seinen Schülern zählten unter anderem Theo Hirsbrunner, Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Jürg Wyttenbach und Roland Moser.

Sándor Veress mit Heinz Holliger im August 1986 in Luzern. Foto: Claudio Veress

Der Sammelband Sándor Veress gibt lebendige Einblicke. Roland Moser berichtet Positives über seinen Lehrer, der im Unterricht – wohl in einer Mischung aus Bescheidenheit, pädagogischem Gespür und Interesse am anderen – nie «eigene Arbeiten erwähnt oder gezeigt» habe (S. 72). Dass von Veress durchaus hochrangige Werke stammen, belegen die Ausführungen und Analysen von Heinz Holliger über die Passacaglia concertante für Oboe und Streichorchester (1961) sowie die Betrachtungen des Musikwissenschaftlers Bodo Bischoff über das Spätwerk Glasklängespiel für gemischten Chor und Kammerorchester (1978).

Veress, Schüler von keinen Geringeren als Béla Bartók und Zoltán Kodály, war kein Avantgardist. Er fand zwar lobende Worte über die Klangflächenkomposition seines ehemaligen Schülers György Ligeti (S. 43), aber dem Serialismus der 1950er-Jahre stand er skeptisch bis ablehnend gegenüber. Das Lob für Ligeti findet sich in seinem wunderbaren, auf Englisch abgedruckten Text New Trends in European Music since World War II. Hier zeigt sich Sándor Veress nicht nur als einfühlsamer Beobachter, sondern auch als ungeheuer gebildeter, interdisziplinär denkender Kunst- und Kulturwissenschaftler im aufrichtigen Bemühen um eine gesellschaftliche Verankerung der Musik des 20. Jahrhunderts. Der sehr lesenswerte Sammelband mit 15 Aufsätzen ist somit nicht nur für den Veress-Forscher aufschlussreich; er gibt allen Interessierten viele Informationen fernab ausgetretener Pfade einer musikalischen Fortschrittsideologie des 20. Jahrhunderts.

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Sándor Veress, hg. von Ulrich Tadday, Musik-Konzepte Heft 192/193, 197 S., € 38.00, Edition Text und Kritik, München 2021, ISBN 978-3-96707-389-8

 

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